Ausgabe 2023

Band 1 und 2 | 35. Jahrgang

Abstracts

Die moralische Ökonomie des imperialen Hochkapitals? Die (Nicht-)Verstaatlichung ausländischer Unternehmen im Rumänien der Nachkriegszeit und die Idee einer rumänischen Nationalökonomie

Gábor Egry

Dieser Artikel untersucht, wie ungarische Kapitaleigentümer trotz der Bemühungen des Staates, die Unternehmen mit Hilfe von Verbindlichkeiten, die vor 1918 mit rumänischen Geschäftsleuten eingegangen wurden, zu verstaatlichen, ihr Eigentum bewahren und Schlüsselpositionen auf dem rumänischen Markt nach dem Ersten Weltkrieg erlangen konnten. Es wird argumentiert, dass diese Verbindlichkeiten im Gegensatz zum klassischen Verständnis des Begriffs Teil einer moralischen Ökonomie des Hochkapitals waren und mit einer Strategie der Einbettung der Industriebetriebe in die lokale Gesellschaft durch die Kooptation der lokalen politischen Eliten einhergingen. Die Diskrepanz zwischen dem normativen, nationalistischen Diskurs der Staatlichkeit und der zweideutigen Praxis der Rumänisierung erzeugte jedoch eine Gegenreaktion auf dieser lokalen Ebene. Dies führte zu einem Diskurs mit moralischen Ansprüchen, der das Scheitern der Rumänisierung des Industriesektors mit der allgemeinen Korruption des Landes und seiner Eliten sowie dem Fortbestehen ethnischer Unterschiede in der Gesellschaft in Verbindung brachte.

The Moral Economy of High Imperial Capital? The (Non-)Nationalization of Foreign Companies in Post-WWI Romania and the Idea of a Romanian National Economy

Gábor Egry

This article discusses how Hungarian capitalists preserved their property and sometimes gained key positions on the market in post-WWI Romania despite the state’s efforts to Romanianize these companies with the help of obligations established with Romanian businessmen prior to 1918. I will argue that these obligations were part of a moral economy of the high capital as opposed to the classic understanding of
the term, and also complemented with a strategy of embedding industrial works in local society by co-opting local political elites. However, the discrepancy between the normative, nationalist discourse of statehood and the ambiguous practice of Romanianization generated a backlash at this local level which resulted in a discourse of
morality-based claim-making that connected the failure to Romanianize the industrial sector with the general corruption of the country and its elites, and the persistence of ethnic others within society.


Die politischen Eliten Fiumes/Rijekas und ihre Herausforderer, 1918–1924

Ivan Jeličić

Der Artikel befasst sich mit der Frage von Kontinuitäten und Brüchen innerhalb der politischen Elite der Stadt Fiume (heute Rijeka, Kroatien) nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Der Übergang vom (österreichisch-)ungarischen Kontext zum italienischen Nationalstaat (1918–1924) war von einer Vielzahl konkurrierender Institutionen gekennzeichnet, die die Stadt auf verschiedenen Ebenen verwalteten oder zu verwalten versuchten, sowie einer Reihe von politischen Angeboten. Der Beitrag untersucht Kontinuität und Diskontinuität bei den Stadträten der späten Habsburgerzeit und dem italienischen Nationalrat, der die Stadt seit 1918 maßgeblich kontrollierte. Darüber hinaus werden die alternativen politischen Initiativen analysiert, die sich gegen die Eliten wandten, die sich gegen die italienische Annexion stellten – Autonomisten, Autonomistische Demokraten, Sozialisten. Es wird gezeigt, dass es weder eine klare, geradlinige Entwicklung von der früheren ungarischen Staatstreue zum italienischen Annexionsnationalismus noch vom Autonomismus zum
italienischen Nationalismus gab. Darüber hinaus setzten sich politische Akteure für klassenbasierte Projekte und Alternativen zur italienischen oder südslawischen nationalstaatlichen Annexion ein. Dabei wird insgesamt deutlich, wie die sozialen und politischen Veränderungen innerhalb der habsburgisch-ungarischen Gesellschaft,
die durch die internationale politische Situation der Nachkriegszeit geprägt wurden, die Entwicklung neuer und alter Eliten nach 1918 beeinflussten.

Fiume’s Political Elites and Their Challengers, 1918–1924

Ivan Jeličić

The article addresses the question of continuity and rupture within the political elite of the city of Fiume (now Rijeka in Croatia) after the breakup of the Austro-Hungarian Monarchy. The transition from the (Austro-)Hungarian context to the Italian nation-state (1918-1924) was characterized by multiple and competitive institutions involved in administering or trying to administer the city on different levels, as well
as by heterogeneous political options. What is examined is the continuity and discontinuity between municipal councils of the late Habsburg period and the Italian National Council, a political body that substantially controlled the city since 1918. Furthermore, alternative political projects, the challengers to the elite, that disputed the
Italian annexation – Autonomists, Autonomist Democrats, Socialists – are analysed. The article shows that there was not a clear straightforward evolution from previous Hungarian state loyalties to Italian annexationist nationalism, nor from autonomism to Italian nationalism. Further on, class-based projects and alternatives to Italian or South Slavs nation-state annexation were championed by political actors, remarking altogether how social and political transformations inside Habsburg-Hungarian society, influenced by the post-war international political situation, affected the development of new and old post-1918 elites.


Böhmens Ostgrenze im Wandel, 1918–1919

Ségolène Plyer

Der Übergang Böhmens zu einer Republik, der eine Revolution nach bolschewistischem Vorbild vermeiden sollte, beruhte auf einer starken Kontinuität der staatlichen Verwaltung und auf der militärischen Besetzung der Grenzen. In einer quasi kommunitär organisierten Gesellschaft, die in zwei nach tschechischer und deutscher Sprache
getrennte Gruppen aufgeteilt war, bemühte sich die Verwaltung in Prag, wie aus den Akten des Prager Nationalarchivs hervorgeht, die tschechischsprachige Bevölkerung von ihrem nationalen Geist und die deutschsprachige Bevölkerung von einer gerechten Behandlung zu überzeugen. Dank ihrer Kenntnis der lokalen Zusammenhänge konnte sie sich die Vielfalt der lokalen Meinungen und Interessen zunutze machen. Die Fallstudie in Ostböhmen zeigt, dass die Integration spürbar schneller vonstattenging, wenn die lokalen Eliten gut mit dem neuen politischen Zentrum Prag verbunden waren. In Náchod/Nachod wurden bereits im Zusammenhang mit den Provinzwahlen von 1908 Beziehungen zu bedeutenden Politikern geknüpft. In Trutnov/Trautenau
scheint die Vermittlung durch hochrangige Beamte und Offiziere nach dem Dezember 1918 unverzichtbar gewesen zu sein. Für die Bürger ging es auch darum, die neuen Spielregeln zu erlernen, zum Beispiel durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Zusammenhang mit den menschlichen Verlusten im Krieg. Sobald die Kommunalwahlen vom Juni 1919 beendet worden waren, also lange vor den Parlamentswahlen von 1920, auf die sich die meisten Studien bisher konzentriert haben, begann die Mehrheit der lokalen politischen Akteure einen „Sozialvertrag“ auszuarbeiten, der mit dem neuen Staat geschlossen werden sollte.

Bohemia’s Eastern Border in Transition, 1918–1919

Ségolène Plyer

Bohemia’s transition to a republic that would avoid a Bolshevik-type revolution was based on a strong continuity of state administration and on the military occupation of the borders. In a society organized in a quasi-communitarian way in two groups divided according to the Czech and German languages, the administration in Prague, as files from the National Archive in Prague show, endeavoured to convince the Czech speakers of its national spirit and the German speakers that they would receive fair treatment. Using its knowledge of sub-state contexts, it was able to take advantage of the diversity of local opinions and interests.
The case study in Eastern Bohemia shows that the integration was noticeably quicker when the local elites were well connected to the new political centre, Prague. In Náchod, ties had already been built with politicians of stature around the provincial elections of 1908. In Trutnov/Trautenau, the mediation of high-ranking officials and
officers appears to have been indispensable after December 1918.
For the citizens, it was also a matter of learning the new rules of the game, for example by claiming social benefits related to the human losses of the war. Thus, as soon as the municipal elections of June 1919 were over, i.e. long before the parliamentary elections of 1920 on which most studies have focused so far, the majority of local political
actors began to work on the “social contract” to be concluded with the new state.


Slowenischer ethnolinguistischer Nationalismus als Rhetorik und Praxis in der postimperialen Schulverwaltung in Prekmurje Übermurgebiet

Jernej Kosi

Der Beitrag argumentiert anhand einiger aufschlussreicher und aussagekräftiger Fragmente aus Zeitungsartikeln, Verwaltungsberichten und offiziellen Maßnahmen, die nach der Besetzung und Annexion von Prekmurje eingesetzt wurden, dass slowenische Beamte, die nach Prekmurje kamen, einsprachige slowenische Schulen als
ein wesentliches Instrument für die Verbreitung slowenischer nationaler Ideen und die Sozialisierung der Schüler zu Mitgliedern der slowenischen Nation betrachteten. Der Eifer der slowenischen Verwaltungsbeamten bei der Umgestaltung und Wiedererrichtung der lokalen Schulen wurzelte in der Rhetorik und Praxis der ethnolinguistischen slowenischen Nationalaktivisten vor 1918. Da die slowenischen Beamten die spätkaiserlichen österreichischen „Nationalitätenkämpfe“ als Konflikte um den Gebrauch der Sprache erlebt hatten, hielten sie die Beherrschung der slowenischen
Standardsprache für eine notwendige Voraussetzung für die Identifikation mit der slowenischen Nation.

Slovene Ethnolinguistic Nationalism as Rhetoric and Practice in Post-Imperial School Administration in Prekmurje

Jernej Kosi

By presenting several illuminating and telling fragments from newspapers articles, administrative reports and official measures employed after the occupation and annexation of Prekmurje, I argue that Slovene officials who came to Prekmurje regarded monolingual Slovene schools as an essential tool for the dissemination of Slovene national ideas and the socialization of pupils into members of the Slovene nation. The Slovene administrators’ zeal regarding the transformation and the re-establishment of local schools was rooted in the pre-1918 rhetoric and practices of Cisleithanian Slovene ethnolinguistic national activists. Having experienced the late Imperial Austrian “national struggles” as conflicts over the use of language, Slovene officials believed proficiency in the standard Slovene national language to be a necessary precondition for identification with the Slovene nation.


Alternativen zur Machtübernahme. Košice/Kaschau 1918–1919

Simon Attila

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich in den nördlichen Regionen des ehemaligen Königreichs Ungarn die tschechoslowakische Nationalideen durch, was dazu führte, dass das Gebiet der heutigen Slowakei Teil der neu ausgerufenen Tschechoslowakischen Republik wurde. Der Machtwechsel, bei dem das Gebiet von Ungarn zur Tschechoslowakei überging, ist als ein sukzessiver, mehrere Monate dauernder
Prozess zu verstehen. Die vorliegende Studie skizziert am Beispiel einer der größten Städte der Region, Košice/Kaschau, die Besonderheiten des Machtwechsels in den Jahren 1918–1919. In Kaschau wurde die Möglichkeit eines konsensbasierten Machtwechsels in Betracht gezogen, aber letztlich nicht realisiert. Den Machtwechsel bestimmte hier das Aufeinanderprallen der Absichten der lokalen Elite und der neuen Behörden, wobei nicht nur friedliche Mittel, sondern auch Gewalt zum Einsatz kamen.

Alternatives to a Takeover of Power. Košice 1918–1919

Simon Attila

After World War I, in the northern regions of the former Kingdom of Hungary, Czechoslovak ideas prevailed, resulting in the territory of present-day Slovakia becoming part of the newly proclaimed Czechoslovak Republic. The change of power, during which the area transitioned from Hungarian sovereignty to Czechoslovakia, should be envisioned as a slow process lasting several months. This present study, using the example of one of the largest cities in the region, Košice, outlines the peculiarities of the power shift in the 1918-1919 period. In Košice, the possibility of a consensus-based transition of power was considered, but ultimately not realized. The transition of power here was determined by the clash of intentions between the local elite and the new authority, which involved not only peaceful means but also the emergence of violent solutions.


Postimperiale Biografien im russisch-rumänischen Grenzgebiet. Der Fall des Bessarabiers Pantelimon V. Sinadino

Svetlana Suveica

Dieser Artikel beleuchtet anhand eines autobiografischen Zugangs die tiefgreifenden Auswirkungen der sozialen und politischen Veränderungen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in Bessarabien vollzogen. Darüber hinaus wird untersucht, wie der entstehende „nationale“ Kontext, der Versuch einer Distanzierung von der imperialen Vergangenheit, in Wirklichkeit die Fortführung der Vergangenheit durch die „alte“ Elite förderte. Anhand einer eingehenden Untersuchung des Lebensweges von Pantelimon V. Sinadino, der Bürgermeister von Chișinău und prominenter Großgrundbesitzer war, zeigt diese
Studie die subtilen, aber entscheidenden Veränderungen in der Mentalität, Identität und Selbstwahrnehmung der ehemaligen zaristischen Eliten. Sinadinos persönliche Erzählung offenbart auch, wie er sich die Zukunft Bessarabiens nach der Auflösung des Zarenreichs vorstellte und wie er seine Rolle darin sah. Während er um das Zarenreich trauerte und die Ausbreitung des Bolschewismus fürchtete, strebte er trotz der veränderten politischen Umstände die Wiederherstellung von „Großrussland“ an. Darüber hinaus wird aufgezeigt, wie die ehemalige Elite ihre neuen sozialen Rollen unter dem rumänischen Regime verhandelte, indem sie neue Formen der Identität und Zugehörigkeit annahm und auch die Netzwerke und Ressourcen aus der russischen Zarenzeit nutzte.

Post-Imperial Biographies in the Russian–Romanian Borderlands. The Case of the Bessarabian Pantelimon V. Sinadino

Svetlana Suveica

This article illuminates the profound impact of social and political changes that unfolded in Bessarabia at the conclusion of World War I on the life trajectories of individuals. Additionally, it explores how the emerging “national” context, intent on distancing itself from the imperial past, stimulated in fact the perpetuation of the past
by the “old” elite. Through an in-depth examination of the life journey of Pantelimon V. Sinadino, a former mayor of Chișinău and a prominent landowner, this study shows the subtle yet pivotal transformations in the mentality, identity, and self-perception of former imperial elite figures. Sinadino’s personal narrative also reveals how he envisaged the future of Bessarabia after the imperial dissolution and foreseen his role into it. Whereas mourning for the empire and fearing the spread of Bolshevism, he aspired for the restoration of “Greater Russia” despite altered political circumstances. Furthermore, it highlights how the former elite negotiated their new social roles under the Romanian regime by adopting new forms of identity and belonging and also
leveraging the networks and resources from the Russian imperial era.


Der Wunschkandidat fällt durch. Securitate und Kultusdepartement manipulieren die Wahl des Hermannstädter Stadtpfarrers

Hannelore Baier

Wie in alle Ämter mussten im kommunistischen Rumänien auch in jene der Glaubensgemeinschaften Personen gewählt werden, die der Staatsmacht genehm waren – trotzdem in der Verfassung verankert war, dass die Kulte frei seien, sich zu organisieren und ihre Tätigkeit auszuüben. Dargestellt werden im vorliegenden Beitrag die
Vorgänge um die Stadtpfarrerwahl 1962 in Hermannstadt. Der von der Gemeinde gewünschte Pfarrer wurde zum Verzicht auf die Kandidatur gedrängt, der Wunschkandidat der Machtstrukturen dennoch nicht durchgesetzt. Der letztlich gewählte Pfarrer war jedoch ebenfalls ein Mitarbeiter der Securitate.

The Favoured Candidate Fails. The Securitate and the Department of Culture Manipulate the Election of the Sibiu City Pastor

Hannelore Baier

In communist Romania, people who were acceptable to the state had to be elected to the offices of the religious communities – even though the constitution guaranteed that religious communities were free to organize themselves and carry out their activities. This article describes the election of the new city pastor (“Stadtpfarrer”) in Sibiu in 1962. The pastor desired by the congregation was pressured into renouncing his candidacy, but the candidate favored by the power structures did not prevail. However, the pastor who was elected in the end was also a collaborator of the Securitate.


Die Legende des Ikaros. Anmerkungen zu den Parabeln von György Bretter und Originaltext in deutscher Übersetzung

Franz Sz. Horváth

Zwischen 1966 und 1972 schrieb der Philosoph György Bretter (1932–1977) als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Rumänien eine Reihe von Essays über Figuren der griechischen Mythologie. Mit ihnen wollte er seinen Zeitgenossen bewusst machen, dass es möglich ist, aus den Schranken jeder Epoche auszubrechen, Verantwortung zu übernehmen und ein selbstbewusstes Leben zu führen. Mit Ikaros warf
Bretter ein Problem auf, das sich selbst in Siebenbürgen selbstkritische Marxisten viel zu selten stellten: „Ist es richtig, einen Menschen im Namen abstrakter Wahrheiten zu zerstören? Ist es richtig, das Werk des Menschen gegen den Menschen zu wenden?“ Bretters Mytheninterpretationen waren also nicht nur existenzialistischer und anthropologischer Natur, sondern stellten auch eine Möglichkeit dar, das Regime im Geheimen zu kritisieren. Der vorliegende Aufsatz führt in Bretters Mytheninterpretation ein und stellt seinen Essay „Die Legende von Ikaros“ erstmals der deutschsprachigen Öffentlichkeit vor.

The Legend of Icarus. Notes on György Bretter‘s Parables and Original Text in German Translation

Franz Sz. Horváth

Between 1966 and 1972, the philosopher György Bretter (1932–1977), a member of Romania’s Hungarian minority, wrote a series of essays on figures from Greek mythology. He consciously wanted to employ them to make his contemporaries aware of the possibility of breaking out of the barriers of any era, taking responsibility and leading a self-confident life. Through Icarus, Bretter raised questions that even self-critical Marxists in Transylvania asked themselves much too rarely: “Is it right to destroy a person in the name of abstract truths? Is it right to turn the work of man against man?” So, Bretter’s interpretations of myths were not only existentialist and anthropological in nature, but also represented a way of secretly criticizing the regime. This essay
introduces Bretter’s interpretation of myths and presents his essay “The Legend of Icarus” to the German public for the first time.