Heinrich Stiehler: „Nacht“. Die rumänische Schoah in Geschichte und Literatur 

„Nacht“. Die rumänische Schoah in Geschichte und Literatur, Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2019, 131 Seiten.

Noch immer ist die Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Rumänien bzw. in während des Zweiten Weltkriegs rumänisch besetzten Gebieten überlagert durch die Epoche des „realen Sozialismus“ und durch die vorherrschende Selbstwahrnehmung als „Opfer der Geschichte“. So setzte die historische Rekonstruktion und Aufarbeitung des Holocaust in Rumänien entweder durch im Ausland lebende rumänische Wissenschaftler (z.B. Radu Ioanid am Holocaust Memorial Museum in Washington D.C.) oder erst auf äußeren politischen Druck hin – im Vorfeld des NATO-Beitritts 2004 – ein. 

Bis heute dominieren wissenschaftliche und journalistische Dokumentationen über die Ära des Stalinismus, über das Ceauşescu-Regime oder die Securitate den politischen Buchmarkt Rumäniens. Dagegen wirken die seit den neunziger Jahren vor allem durch Victor Neumann oder Lya Benjamin verfassten Monographien sowie die Veröffentlichungen des auf jüdische Themen spezialisierten Hasefer-Verlages oder des Nationalen Institutes zum Studium des Holocaust in Rumänien (Institutul Naţional pentru Studierea Holocaustului din România, INSHR) zumeist wie einsame Mahnungen. Wie dringlich die breite Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Rumänien ist, zeigt der im April 2020 veröffentlichte Bericht des INSHR über Antisemitismus und Holocaustleugnung. Danach ergänzen sich „analoge“ Formen wie die Schändung von Synagogen, Friedhöfen und Gedenkstätten mit zunehmend „virtuellen“ Formen im Internet und der politischen Öffentlichkeit. 

Umso mehr ist das Erscheinen der hier anzuzeigenden Publikation zu begrüßen, wenngleich auch diese Studie nicht in Rumänien, sondern in Österreich verlegt wurde und der Autor ein deutscher, allerdings Rumänien eng verbundener, ist oder vielmehr war. Denn die Freude, diese Studie besprechen und damit vielleicht noch etwas bekannter machen zu dürfen, ist durch den Verlust eines außergewöhnlichen Wissenschaftlers und Autors überschattet. 

Heinrich Stiehler, ausgewiesener Kenner der rumänischen Literatur (z.B. als Herausgeber der deutschen Ausgabe der Werke von Panaït Istraţi), verstarb nach langer Krankheit im April 2023. Als eine seiner letzten Publikationen legte er mit der 2019 erschienenen Schrift „Nacht“. Die rumänische Schoah in Geschichte und Literatur eine an Umfang kleine, an Inhalt und Analyse aber bedeutende Studie vor. Darin gelang ihm souverän, auf wenigen einführenden Seiten die wesentlichen historischen Entwicklungslinien, Akteure und Hintergründe der Judenverfolgung und Judenvernichtung im faschistischen Rumänien zwischen 1941 und 1944 zu skizzieren. An die profunde Einführung schließt sich Stiehlers „Stationendrama“ an, wie er es selbst nennt. In vier geographisch basierten Kapiteln stellt er jeweils Duos aus prominenten und weniger bekannten, zumeist jüdischen Schriftstellern aus bzw. über Bukarest (Filip Brunea-Fox, Mihail Sebastian), Iaşi (Curzio Malaparte, Aurel Baranga), Cernowitz/Cernăuţi (Isak Weißglas, Robert Flinker) und Transnistrien (Immanuel Weißglas, Edgar Hilsenrath) vor, die auf Rumänisch, Deutsch oder Italienisch über den Holocaust in Rumänien schrieben. 

Ergänzt wird die literarisch zentrierte Darstellung („statt eines Nachwortes“) mit kurzgefassten „Notizen zu den Roma in Transnistrien“ und damit jener Bevölkerungsgruppe, die gemeinhin im Schatten der Holocaustforschung und – erinnerung steht. Biographische Informationen zu den vorgestellten Autoren beschließen den Band. 

Die literarischen Stationen des von H.Stiehler entfalteten historisch-politischen Dramas vermitteln jeweils Auszüge aus dem Werk der einzelnen Autoren, die den Holocaust in und durch Rumänien in unterschiedlichen Perspektiven (als betroffener Augenzeuge und Verfolgter oder als professioneller Berichterstatter und Erzähler) und in unterschiedlichen Formen (als Roman, fiktionale Reportage, Tagebuch) widerspiegeln. An die Exzerpte schließen stets H.Stiehlers politisch-historische Einordnungen sowie literatur- und textkritische Analysen an, die wiederum andere historische und literarische Quellen heranziehen. 

So entsteht auf wenigen Zeilen ein Geflecht aus Geschichte, Politik und Kultur Rumäniens, wie es – nicht nur zu diesem Thema – in dieser Dichte und Reflexion bisher wohl kaum geboten wurde. Denn H.Stiehler war beides: ein an der Frankfurter „Kritischen Theorie“ geschulter Geist, ein versierter Romanist mit einem starken Bezug zur französischen Literatur und ein Kenner der Geschichte und Kultur Rumäniens. 

Der italienische Romancier Curzio Malaparte (anfangs Mitglied der italienischen faschistischen Partei PNF) erscheint hier in einer Reihe mit rumänischen Autoren, da er als Kriegskorrespondent für den Mailänder Corriere della Sera 1940 bis 1945 von der Ostfront und dem Balkan berichtete. Den nicht durch eigene Augenzeugenschaft beglaubigten Verlauf des antijüdischen und antikommunistischen Pogroms von Iaşi im Juni 1941, verübt durch rumänische und deutsche Soldaten, den rumänischen Geheimdienst und tausende rumänische Zivilisten, verarbeitete er literarisch im seinerzeit erfolgreichen, heute weitgehend vergessenen Roman „Kaputt“ (1944), aus dem H.Stiehler ausführlich zitiert. 

Sicher nicht zufällig nennt H.Stiehler seine Monographie in Anlehnung an den Ghettoroman von Edgar Hilsenrath ebenfalls „Nacht“, diesmal in Anführungszeichen. „Nacht“ steht hier wohl als eine Metapher für das Schicksal der mehr als eine viertel Million ermordeter rumänischer Juden oder jüdischer Rumänen während des Faschismus. H.Stiehler bevorzugt den Begriff der „Schoah“ anstelle des seit den späten siebziger Jahren zumeist verwendeten „Holocaust“ (ungefähr: „Brandopfer“ oder „Großbrand“), weil dieser Terminus „eine dem NS-Regimes eigene technische Dimension des Massenmordes“ impliziere, „die für die rumänischen Verhältnisse so nicht zutrifft“. Deshalb erscheint ihm ein Begriff für „Verderben“ oder „Heimsuchung“ angemessener, wie er „Schoah“ darstellt (S. 6f). 

Im einführenden Kapitel („Zur Geschichte des rumänischen Antisemitismus) stellt Stiehler Intellektuelle (z.B. Nicolae Iorga, Mircea Eliade oder Emil Cioran) als Vordenker und zum Teil auch Organisatoren von Konzepten der zunächst ökonomischen wie sozialen Exklusion und später der physischen Vernichtung dar – was aufschlussreiche Parallelen zu deutschen Hochschullehrern und Wissenschaftlern eröffnet, die nicht selten die akademischen Lehrer der jungen rumänischen Elite waren. Gestützt auf seine überzeugende Darstellung resümiert H.Stiehler: „Sieht man vom technologischen Aspekt ab, steht die rumänische Vernichtungspolitik der deutschen in nichts nach“ (S. 23). 

Dass er in seiner Argumentation den 2018 erschienenen, neben Ungarn und der Slowakei auch Rumänien behandelnden Band 13 der monumentalen Quellenedition Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 nicht mehr berücksichtigen konnte, ist bedauerlich, zumal dort politische, administrative und literarische Dokumente des Holocaust in Rumänien versammelt sind (u.a. ein Auszug aus dem Tagebuch von Mihail Sebastian zum Pogrom in Bukarest im Januar 1941). 

Zu den Verdiensten von H.Stiehlers Monographie zählt – neben den bereits genannten – eine durchgängig kritische und differenzierende Haltung zum Thema und zu Personen, die auch die Widersprüchlichkeit z.B. eines Mihail Sebastian nicht ausblendet, der (wie Mircea Eliade) als Redakteur einer der faschistischen „Eisernen Garde“ nahestehenden Tageszeitung (Cuvântul) tätig war und später als Jude selbst Opfer faschistischer Repression wurde (er erhielt Berufsverbot als Rechtsanwalt). 

Im Tableau der vorgestellten Literaten fehlt leider eine literarische Stimme aus dem während des Holocaust zu einem großen Teil ungarisch besetzten Transsylvanien/Siebenbürgen ebenso wie die einer Autorin, obwohl z.B. mit Rose Ausländer (Cernowitz/Cernăuţi) eine solche inzwischen den Weg in den Kanon der rumänischen/deutschsprachigen/jüdischen Literatur gefunden hat. Dass und warum dies bis heute nicht mehr rumänischen jüdischen wie nicht-jüdischen Autorinnen gelungen ist, wäre mehr als eine eigene Studie wert. 

Es ist sehr zu wünschen, dass Heinrich Stiehlers „Nacht“ bald ins Rumänische übersetzt wird (dann mit Zitaten aus den rumänischen Originalquellen anstelle indirekter Zitate) und damit einem breiteren Publikum, vor allem aber Schüler/-innen und Studierenden, zugänglich wird. Dies wäre gewiss ganz in seinem Sinne. 

Peter Chroust

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