Ausgabe 2021–2022

Band 1 und 2 | 33. und 34. Jahrgang

Abstracts

Die nationalsozialistische Presse- und Propagandaarbeit unter Volksgruppenführer Andreas Schmidt 1940 bis 1944 und die missbrauchte deutsche Minderheit in Rumänien

Johann Böhm

Mit dem Amt für Presse und Propaganda hatte sich Volksgruppenführer Andreas Schmidt ein neues Instrument geschaffen, das erheblichen Anteil daran hatte, die deutsche Minderheit Rumäniens im nationalsozialistischen Sinne gleichzuschalten. Das von Walter May geleitete Amt kontrollierte alle Bereiche der Publizistik sowie Journalistik bis zum einfachen Artikelschreiber, ebenso Literatur, Theater, Film, bildende Kunst und auch die Musik der deutschen Minderheit Rumäniens. Die Jahre 1940 bis 1944 formten dort einen neuen Typus des Journalisten, der sich als Kämpfer für die Verbreitung und Verwirklichung der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie begriff. Nach 1945 gelang es dieser Personengruppe, unter dem Dach der Landsmannschaften ihre verhängnisvolle Rolle bei der Zerstörung liberaler und kultureller Traditionen der deutschen Minderheit Rumäniens zu vertuschen und zu entstellen.

The National Socialist Press and Propaganda Work under Ethnic Group Leader Andreas Schmidt from 1940 to 1944 and the Abused German Minority in Romania

Johann Böhm

With the Office for Press and Propaganda, “Volksgruppe” leader Andreas Schmidt created an instrument that played a considerable role in bringing Romania’s German minority into line with National Socialism. The office headed by Walter May controlled all areas of journalism down to every article writer, as well as literature, theatre, film, visual arts, and music. The years from 1940 to 1944 saw the emergence of a new type of journalist who saw himself as a fighter for the dissemination and attainment of National Socialist blood-and-soil ideology. After 1945, this group of people succeeded under the umbrella of the Landsmannschaften in covering up and distorting their disastrous role in the destruction of the liberal and cultural traditions within Romania’s German minority.


Deutsche Kriegsgefangene als Arbeitskräfte in der jugoslawischen Wirtschaft zwischen 1945 und 1949

Saša S. Ilić

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Zehntausende deutscher Soldaten in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft – untergebracht in Lagern, von wo aus sie zur Zwangsarbeit entsandt wurden. Waren die Gefangenen während des Krieges weitestgehend ohne erkennbare Systematik eingesetzt worden, versuchten die jugoslawischen Autoritäten ab März 1945, einen Teil der Gefangenenarbeit systematischer zu organisieren und die Gefangenen „gezielt“ einzusetzen. Sie erhielten entsprechend ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse Arbeitsaufträge, und im Laufe der Zeit wurden mehr als 5.000 von ihnen als freie Menschen voll in das Wirtschaftsleben integriert, was ein besonderes jugoslawisches Phänomen darstellte. Der Aufsatz skizziert Etappen und Spezifika des Arbeitseinsatzes der Kriegsgefangenen, nicht zuletzt im Hinblick auf die allgemeinen Bedingungen und mitunter ihren Einsatz als Fachkräfte in der jugoslawischen Wirtschaft der Nachkriegsjahre.

German Prisoners of War as Labor Force in the Yugoslav Economy between 1945 and 1949

Saša S. Ilić

After World War Two tens of thousands of the German armed forces’ member were held in Yugoslav captivity. POWs were held in camps from where they were sent to forced labour, at the beginning primarily to mass physical labour. However, the Yugoslav authorities, due to the great shortage of experts in various fields, had started very early (even before the war ended) to employ the POWs in the positions adequate to their knowledge and experience. Such a trend was especially promoted as of mid-March 1946, when the standpoint of the State about operational engagement of the prisoners-experts was clearly formed. Still, the expertise of the captives was not fully employed immediately, so that in March 1947 there were approximately 9.500 captives still occupying inadequate working places. Meanwhile, more featured experts or the ones who were greatly needed by the Yugoslav economy were offered to sign employment contracts. Hence by the beginning of repatriation of the majority of prisoners (January 1949) more than 5.000 prisoners left the camps and gained freedom in exchange for multi-annual employment contracts.


Jüdische Überlebende des Holocaust. Neubeginn in der kommunistischen Gesellschaft Jugoslawiens

Anna Maria Grünfelder

Die 1945/1946 aus dem Deutschen Reich und den von ihm besetzten Ländern sowie aus den Exilländern nach Jugoslawien zurückgekehrten jüdischen Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager und ihre Integration in das kommunistische System, bisher ein Forschungsdesiderat in der jugoslawischen Historiographie und jener der Nachfolgestaaten und der Historiker außerhalb Jugoslawiens, bilden die zentrale Frage dieser Untersuchung: Wie ging es mit den Überlebenden weiter? Als Fazit ergibt sich, dass die Überlebenden die Mühen des Neubeginns überwiegend aus eigenen Kräften bewältigten, einige von ihnen – Männer und Frauen, die 1948/1949 ein zweites Mal strandeten – nunmehr in einem titoistisch-stalinistischen Gulag (Goli otok und Frauenlager Grgur). Mehrheitlich aber wurden die Mitglieder der jüdischen Gemeinden als „Repräsentanten“ des „übernationalen Jugoslawien“, des Zusammenlebens aller seiner Völker und Völkerschaften in „Brüderlichkeit und Einigkeit“ vereinnahmt, ohne jedoch Sonderrechte oder mit ihren Holocaust-Erfahrungen politisch, rechtlich oder sozial Relevanz zu erhalten.

Jewish Holocaust Survivors

Anna Maria Grünfelder

The Jewish survivors of the concentration and extermination camps who returned to Yugoslavia in 1945/1946 from the German Reich, occupied countries, as well as from countries of exile, and their integration into the communist system were until now a research desideratum in Yugoslav historiography and that of the successor states and historians outside Yugoslavia. This shall form the central question of this study: What happened to these survivors? The conclusion is that the survivors mostly coped with the hardships of the new beginning on their own, some of them – men and women who were stranded a second time in 1948/1949 – now in a Titoist-Stalinist gulag (Goli otok and women’s camp Grgur). For the most part however, the members of the Jewish communities were appropriated as “representatives” of a “supranational Yugoslavia,” of the coexistence of all its peoples and nations in “brotherhood and unity,” without, however, being given special rights or, with their Holocaust experiences, political, legal or social relevance.


War der „reale Sozialismus“ modern?

Anton Sterbling

„War der ‚reale Sozialismus ‘ modern?“ – ist die Frage, der dieser Beitrag in Anlehnung an einen Aufsatz Ilja Srubars nachgeht. Zunächst geht es dabei um zentrale Strukturmerkmale moderner Gesellschaften, sodann um die davon abweichenden Strukturgegebenheiten und Integrationsmechanismen realsozialistischer Gesellschaften und insbesondere um die für diese kennzeichnenden „Umverteilungsnetzwerke“. In einem dritten Gedankenschritt werden die modernen und nichtmodernen Seiten realsozialistischer Gesellschaften und die Auswirkungen dieser strukturellen Gegebenheiten für die die Folgezeit behandelt. Daran anschließend wird geprüft, inwiefern diese Überlegungen mit einem Ansatz zur Strukturanalyse ost- und südosteuropäischer Gesellschaften kompatibel erscheinen, der von politischer Ausschließung, sozialer Schließung auf soziokulturellen Grundlagen und meritokratisch-funktionaler Differenzierung ausgeht. Die Betrachtung erweiternd wird die Relevanz des analytischen Begriffspaares von „System“ und „Lebenswelt“ (Jürgen Habermas) in diesem Zusammenhang in den Blick genommen.

Was the ‘real socialism’ modern? Critical inquiries

Anton Sterbling

“Was ‚real socialism‘ modern?” – this is the question this article explores based on an essay by Ilya Srubar. First, the paper deals with the central structural features of modern societies, followed by a discussion of the structural conditions and integration mechanisms of real socialist societies that deviate from them. In particular it also tackles the “redistribution networks” that characterize them. In a third step, the modern and non-modern aspects of real socialist societies and the effects of these structural conditions on the subsequent period are discussed. This is then followed by an examination of the extent to which these considerations appear compatible with an approach to the structural analysis of East and Southeast European societies that assumes political exclusion, social closure on socio-cultural bases and meritocratic-functional differentiation. The relevance of the analytical conceptual pair of “System” and “Lebenswelt (Lifeworld)” (Jürgen Habermas) is also taken into consideration.