Hans-Werner Retterath (Hg.): Auslandsdeutsches Schulwesen des 20. Jahrhunderts zwischen ‚Volkstumsarbeit‘ und Auswärtiger Kulturpolitik   

Auslandsdeutsches Schulwesen des 20. Jahrhunderts zwischen ‚Volkstumsarbeit‘ und Auswärtiger Kulturpolitik, In: Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa 24. Münster, New York: Waxmann Verlag 2021. 190 S., 10 s/w-Abbildungen. 

Der muttersprachliche Unterricht für Angehörige von Minderheiten war in der Geschichte häufig ein Konfliktstoff in spannungsgeladenen gesellschaftlichen Konstellationen zwischen Minorität und Majorität, häufig sogar noch wirkmächtiger als die Frage der ungehinderten Religionsausübung. Die Geschichte Europas im 19./20. Jahrhundert liefert dafür – nicht nur im Osten des Kontinents – eine Vielzahl von Beispielen. Konfliktsituationen ergaben sich nicht nur in restaurativen Systemen wie dem Deutschen Kaiserreich ab 1871 oder in den autoritären Regimes des 20. Jahrhunderts. Auch progressiv verfasste Staaten wie die Französische Dritte Republik hatten manche Schwierigkeiten damit, sprachlichen Minderheiten muttersprachlichen Unterricht zu gewähren, glaubte man doch im politischen Machtzentrun in Paris, dies würde der Einheit der Nation und der republikanischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger zuwiderlaufen. 

Schulische Institutionen für die Angehörigen deutscher Minderheiten im östlichen Europa im 19./20. Jahrhundert sind in den Geschichts- und Kulturwissenschaften bereits häufig thematisiert worden. Davon zeugen auch die Fallstudien, die Hans-Werner Retterath als Erträge zweier Tagungen am IVDE in Freiburg im Breisgau in diesem Band zusammengefasst hat. Auch das institutionelle Netzwerk, das sich zwischen den Schulen und der Patronage „reichsdeutscher“ und österreichischer Schulbehörden in Form einer Vielzahl von nationalen und konfessionellen Verbänden herausbildete, kann als gut erforscht gelten, einschließlich mancher veränderter Gewichtungen, die sich nach der Machtergreifung der NSDAP im Deutschen Reich ergaben. 

Drei Aufsätze des Sammelbandes führen an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Mit der Entwicklung des Staatlichen Lehrerseminars mit deutscher Unterrichtssprache im damals noch zum Russländischen Reich gehörenden Lodsch (pl. Łódź) befasst sich die Germanistin Krystyna Radziszewska. Eine Vorläuferinstitution hatten deutsche Protestanten in den 1860er-Jahren errichtet, die unter zaristische Obhut kam und bis zur Schließung in der Zweiten Polnischen Republik im Jahr 1932 als Konsequenz einer Reform des polnischen Schulwesens fortbestand. Eindrucksvoll zeigt die Autorin die sich nach den politischen Kontexten wandelnde Innen- und Außenperspektive auf diese Bildungseinrichtung: Während etwa in der Zwischenkriegszeit die Schulakten auf ein einvernehmliches Verhältnis von Deutschen und Polen und die dem Staat gegenüber bezeugte Loyalität von Dozenten und Absolventen schließen lassen, vermittelte die Presse der Weimarer Republik ein Szenario der ständigen Gefährdung und Bedrohtheit. 

Die Kongruenz von sprachlicher und konfessioneller Identität machte nicht selten protestantische Persönlichkeiten zu Initiatoren deutscher Schulen. Die Historikerin Isabel Röskau-Rydel demonstriert dies am Beispiel der Zöcklerschen Anstalten in Stanislau (ukr. Івано-Франківськ, pl. Stanisławów). Das Ehepaar Theodor und Lillie Zöckler errichtete in der ostgalizischen, damals noch habsburgischen Stadt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen Komplex unterschiedlicher Bildungseinrichtungen – vor dem Ersten Weltkrieg ein Kinderheim mit Volksschule –, dann in der polnischen Zwischenkriegszeit unter anderem ein evangelisches Gymnasium und soziale Ausbildungsstätten. Diese angesehenen Schulen, zu deren Absolventen in den 1920er-Jahren zahlreiche Kinder mit jüdischem Hintergrund zählten, bestanden bis zur Okkupation Polens im September 1939 und der Angliederung Ostgaliziens an die UdSSR. 

Eine faktische Einflussnahme seitens des Deutschen Reiches lässt sich erst im Beitrag des ungarischen Ethnologen Máté Dávid Tamaska erkennen. In Budapest war 1908 auf Anregung eines Pastors eine Schule für „reichsdeutsche“ Kinder errichtet worden, die aber auch nicht-deutschen Kindern offenstand, zeitgenössisch modernen didaktisch-pädagogischen Prinzipien verpflichtet war und vom Deutschen Reich aus finanziell gefördert wurde. Im Gegensatz dazu stand ein auf Betreiben der NSDAP und ungarischer Dienststellen errichteter Neubau einer repräsentativen „Reichsschule“ in der ungarischen Hauptstadt, die ab 1938 konzipiert und Zug um Zug realisiert wurde. So konstituierten sich in Budapest zwei konkurrierende Erinnerungsorte: an eine in das städtische Milieu gut integrierte, aufgeschlossene, und an eine von außen oktroyierte, von der NS-Ideologie beherrschte Schule. 

Aus dem urbanen Milieu Budapests führt der nächste Aufsatz in eine überwiegend kleinstädtische oder dörflich-rurale Region. Die deutschen Schulen im slowakischen Landesteil der Tschechoslowakischen Republik und ihre Rolle und Wahrnehmung thematisiert der Historiker Mirek Němec in seinem Beitrag. Bis zur Infiltration und Mobilisierung der deutschen Bevölkerung in der Slowakei durch sudetendeutsche Volkstumsaktivisten ab den späten 1920er-Jahren galt das mehrsprachig angelegte slowakische Minderheitenschulwesen, das auf Integration und damit auch soziale Partizipation ausgerichtet war, als fortschrittlich und wurde auch von den Angehörigen der deutschen Minderheit selbst so gesehen. 

Der Bildungshistoriker Stefan Johann Schatz untersucht schließlich die deutsche Schulpolitik im südmährischen Oberlandratsbezirk Iglau (tsch. Jihlava) in der Zeit des so genannten Protektorats Böhmen und Mähren zwischen 1939 und 1945. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen „Germanisierungspolitik“ dokumentiert er die Beschlagnahme bestehender tschechischer Schulen, die Planung und Gründung neuer deutscher Schulen in einem historisch gemischtsprachigen Gebiet. Ungeachtet dieser wichtigen Befunde wirft die Platzierung dieses Beitrags in einem Sammelband zum „auslandsdeutschen Schulwesen“ erneut die Frage nach dessen Konzeption. Völkerrechtlich war das vom Deutschen Reich annektierte und angegliederte „Protektorat Böhmen und Mähren“ trotz seiner Marionettenregierung in Prag kein „Ausland“, sondern ein besetztes Territorium, das in der politischen Praxis von Berlin aus wie ein Kolonialland behandelt wurde. Insofern ist der – inhaltlich nicht zu beanstandende – Aufsatz von Schatz eher ein Beitrag zur deutschen Kriegsführung als zur auslandsdeutschen Schulpolitik. 

Was hält diese zweifelsohne verdienstvollen Einzelbeiträge zusammen? In seiner konzeptionellen Einleitung formuliert der Herausgeber Hans-Werner Retterath die These einer deutschen „Politik des Ethnomanagements“ oder „Volkstumskampfes“, mit der die Formierung intellektueller Eliten innerhalb der deutschen Minderheiten bezweckt worden sei (S. 9). Er konstruiert darüber hinaus eine „knapp 500 Jahre“ zurückreichende Tradition deutscher Auslandsschulen (S. 9). Spätestens an dieser Stelle kommen gewisse Zweifel auf: Fühlte sich ein deutschsprachiger Schüler der Renaissance- oder Barockzeit in den schwedischen beziehungsweise russischen Ostseeprovinzen, in der polnisch-litauischen Rzeczypospolita oder im östlichen Habsburgerreich wirklich als „Vorposten“ einer „deutschen Kulturnation“, deren Fortbestand ausgerechnet an seinem Standort „bedroht“ gewesen sein sollte? An dieser Stelle ist Hans-Werner Retterath offensichtlich etwas der Versuchung und argumentativen Falle erlegen, eine lange Kontinuitätslinie aufzuzeigen zu wollen. Dieser Hypothese hängt allerdings auch der zweite Autor des Bandes, der Historiker Christian Kuchler, an, der sich der Deutschen Schule in Belgrad ab 1945 widmet. Implizit scheint sie auch bei dem Historiker Dominik Herzer auf, der als geografische Vergleichsgröße zur Lage im östlichen Europa die deutschen Schulen in Spanien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einführt. Dabei gelingt ihm eine überzeugende Systematisierung und definitorische Schärfe der verwendeten Begrifflichkeiten.   

Tatsächlich darf die kritische Befassung mit der deutschen Volkstumspolitik des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs, die katastrophale Folgen nach sich zog, wie wir heute im Rückblick wissen, darf nicht zu einer historiografischen Unschärfe führen. Dies betrifft sowohl die Ebene der Akteure, auf der in manchen Aufsätzen in diesem Band die Protagonisten aus dem Deutschen Reich de facto nur eine untergeordnete oder keine Rolle gespielt haben, als auch die der Empfänger bzw. Nutznießer der Schulen. Das Beispiel Stanislau zeigt anschaulich, dass nicht in jedem Fall ausschließlich Angehörige „deutscher Minderheiten“ nach dem ethnischen Verständnis von Volkstumsideologen die deutschen Schulen im Ausland frequentierten. Dieser Umstand ließe sich noch anhand sehr vieler anderer deutscher Schulen im Ausland belegen. 1901 etwa gründete die Witwe eines deutschen Brauereibesitzers eine Deutsche Evangelische Schule in der rumänischen Schwarzmeer-Hafenstadt Konstanza (rum. Constanța). Da es unter den deutschen evangelischen Kindern in der Dobrudscha keine ausreichende Nachfrage nach weiterführenden Schulen gab und die Förderung seitens der Gustav-Adolf-Stiftung nur sehr dürftig ausfiel, wurden von Anfang an auch zahlende rumänische, jüdische, türkische und armenische Schüler aufgenommen. Die Vermittlung solider deutscher Sprachkenntnisse war in diesem Fall kein Instrument, um politische Eliten der deutschen Minderheit auszubilden. Die andersethnischen Schüler beziehungsweise deren Eltern wollten durch den Anschluss an einen seinerzeit dominanten zentraleuropäischen Sprachraum soziale Aufstiegsmöglichkeiten erhöhen. Das lässt an die Gegenwart denken: Das Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt (rum. Sibiu) oder die Lenauschule in Temeswar (rum. Timișoara) mit ihrem überwiegend deutschsprachigen Lehrplan werden heute mehrheitlich von rumänischen Schüler/innen besucht, die dadurch ihre deutschen Sprachkenntnisse perfektionieren. Auch waren bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die „deutschen Minderheiten“ keineswegs homogene „Gruppen“, die sich ausschließlich ethnisch oder sprachlich definierten. Gerade die protestantischen Schulinitiativen lassen die Relevanz konfessioneller Faktoren aufscheinen; darüber hinaus dürften in vielen Fällen auch soziale Identitäten eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. 

Von diesen prinzipiellen Einwänden einmal abgesehen bieten die einzelnen Fallstudien in dem rezensierten Band eine in jedem Fall erkenntnisfördernde Lektüre. Sie zeigen gleichzeitig, dass es sich trotz der vorhandenen Literatur lohnt, zur Schulgeschichte in all ihren Verflechtungen weiter zu forschen. 

Tobias Weger

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