Die Legende des Ikaros: Anmerkungen zu den Parabeln von György Bretter   

Franz Sz. Horváth 

1. Mythen als philosophische Impulsgeber 

Die Konfrontation zwischen der antiken und der modernen Philosophie berühre die tiefsten Schichten menschlichen und philosophischen Selbstverständnisses, bemerkte Rüdiger Bubner in der Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung Antike Themen und ihre moderne Verwandlung.1 Jede Generation führe die Tradition der Alten auf ihre Weise fort und trage somit zu ihrer Verlebendigung bei. Allerdings gehöre, worauf etwa Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger hingewiesen hätten, den Anfängen des Geistes „ein durch keine Reflexion mehr einholbares Übergewicht“.2 Damit gewinnt die Beschäftigung mit den antiken Ursprüngen eine Legitimation und Notwendigkeit und diese Auseinandersetzung wird im Gefolge Max Horkheimers und Theodor W. Adornos bzw. der Dialektik der Aufklärung noch einmal dialektisch gewendet und betont. 

So alt die Mythen, so alt und vielfältig auch die Geschichte ihrer Deutungen. Diese setzen spätestens mit Platon ein, der sie als dem „Wahren“ entgegengesetzt begriff und ihre allegorische Interpretation begründete.3 Das Gegensatzpaar „Mythos – Logos“ betritt mit ihm die Bühne der Mytheninterpretationen und wird von seinem Schüler Aristoteles fortgeschrieben. Die allegorische Mythendeutung geht davon aus, dass Mythen auf einen tieferen Sinn, auf etwas Anderes hinweisen und ausdrücken wollen. Ihren Gegenpart stellt die von Friedrich Wilhelm Schelling eingeführte tautegorische Lesart dar, nach der die Mythen aus sich selbst heraus und als „theogonischer Prozess“ im menschlichen Bewusstsein zu verstehen sind.4 Im 19. und 20. Jahrhundert blühte die Mythendeutung regelrecht auf und eine Vielzahl von Disziplinen und Denkmodellen versuchte, Mythen neu zu lesen. Zu den einflussreichsten Strömungen gehören die kulturanthropologische, die psychodynamische bzw. psychoanalytische, die kommunikationstheoretische, die soziologische und die strukturalistische sowie die existenzialistische Interpretation.5 Zum Verständnis von György Bretters Parabeln von besonderem Interesse sind zum einen die psychologisch inspirierten Erklärungen, die den Mythos als eine „Aneinanderreihung von Assoziationen und Gefühlsmomente[n]“ auffassen und zum anderen die existenzialistischen, die seine Inhalte vor dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation und von persönlichen Erfahrungen deuten.6

2. Mythosdeutung als existenzialistische Flucht im „real existierenden“ Sozialismus 

Dass auch im Ostblock Mythen gedeutet wurden, ist nicht die Frage, vielmehr wie die Hinwendung zu ihnen zu erklären ist. Warum blieb György Bretter, ein 1932 geborener Angehöriger der ungarischen Minderheit Rumäniens, der in den 1940er-Jahren in dem sich einrichtenden „sozialistischen“ System sozialisiert wurde und die offizielle Lehre angenommen hatte, nicht bei seinen philosophischen Studien und Themen und wandte sich stattdessen den alten Geschichten der Griechen zu? Und es waren nicht einmal nur die Vorsokratiker, von denen in der offiziellen Lehre behauptet wurde, sie seien die ersten Materialisten gewesen, die sein Interesse weckten, sondern die uralten Erzählungen über Ikaros, Laokoon und Chronos.  

Bretters Interesse an den griechischen Mythen ist nur vor dem Hintergrund der Hinwendung einer ganzen Generation ungarischer Minderheitenintellektuellen zu antiken Themen und Mythen zu verstehen. Im größeren Kontext geschah das parallel zur Distanzierung vom offiziellen Marxismus, wofür die Namen von Bretters Generationsgenossen Leszek Kolakowski (1927–2009) oder von Ágnes Heller (1929–2019) stehen. Die Lukácsschülerin Heller gedachte in ihrer Autobiographie Bicikliző majom [Affe auf dem Fahrrad] in einem eigenen Kapitel ihrer Begegnungen mit Bretter und lobte dessen geistreichen und unangepassten Marxismus, ohne zu erklären, wie sich dieser äußerte.7 Dabei stand dieser Marxismus in den 1970er-Jahren, als die beiden einander begegneten, nicht einmal mehr im Zentrum von Bretters Interesse. Denn spätestens seit Mitte der 1960er-Jahre ersetzte in weiten Kreisen von Intellektuellen die Desillusionierung den in die neue sozialistische Gesellschaft gesetzten Glauben. Die Gründe dieser Desillusionierung sind komplex: Die ernüchternde Realität nach zwanzig Jahren sozialistischer Aufbauarbeit, die Nachwirkungen des Terrors, der nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands auch in Rumänien um sich griff, und die Enttäuschung angesichts des Einmarsches osteuropäischer Länder in die Tschechoslowakei, um die dortige Reformbewegung zu ersticken, waren nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite wurde von der ethnischen Wirklichkeit Rumäniens geprägt: Selbst die überzeugtesten jüdischen und ungarischen Kommunisten, die nach dem Krieg begeistert an die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft, in der es keine religiösen und ethnischen Diskriminierungen gäbe, geglaubt hatten, mussten in den 1960er-Jahren erkennen, wie falsch sie lagen. Zwar war nach 1960 auch in Rumänien der Stalinismus überwunden, offene Kritik an den Verhältnissen oder auch nur abweichende Ansichten in ideologischen oder ökonomischen Fragen, waren allerdings selbst in der kurzen Tauwetterperiode nach 1965 unerwünscht. Die „Juli-Thesen“ Nicolae Ceauşescus läuteten 1971 eine neue, restriktive Phase der Innenpolitik ein, die die Minderheiten und ihr Kulturleben insbesondere hart traf und sich gegen ihre Identität richtete.8

Die Hinwendung zur Deutung antiker Erzählungen, Mythen und Philosophen bot seit den 1960er-Jahren den Intellektuellen und Philosophen der ungarischen Minderheit somit einen Weg, sich nicht mit den offiziell erwünschten Themen (Auslegung und Deutung der marxistischen Klassiker, Leben und Probleme der Arbeiterklasse usw.) auseinandersetzen zu müssen. Stattdessen wandten sie sich antiken Themen zu, um einerseits den Zwangserwartungen zu entfliehen, aber andererseits über diesen Umweg Antworten auf die existenziellen Fragen der eigenen ethnischen Gruppe zu geben. Nicht jede Beschäftigung mit der Antike musste allerdings im Lichte der eigenen Lebenssituation geschehen: Der Wissenschaftsphilosoph Imre Tóth (1921–2010), der die Unmöglichkeit des Eintretens für die Wissenschaftsfreiheit am eigenen Leibe erfahren hatte, als er wegen eines Artikels im Rahmen einer antisemitischen Parteisitzung aus der Partei ausgeschlossen wurde, befasste sich mit den Spuren nicht-euklidischer Geometrie bei Aristoteles und mit Zenons Paradoxien (Achill und die Frage der Geschwindigkeit). Seine Ergebnisse wurden in vielen Weltsprachen publiziert und bescherten ihm nach seiner Ausreise aus Rumänien (1968) schließlich einen Lehrstuhl an der Regensburger Universität.9 Tóths Wegbegleiter aus der Zeit der Illegalität und der Judenverfolgung der 1940er-Jahre war der Klausenburger Philosophieprofessor Ernő Gáll (1917–2000). Auch er überwand in den 1960er-Jahren seine dogmatische Periode und öffnete sich neuen geistigen Strömungen. Die Deutung antiker Mythen (Prometheus, Pandora) zog sich auch bei ihm über Jahre hin und er fasste eine Vielzahl seiner Aufsätze Ende der 1970er-Jahre unter dem Titel Die Rückkehr der Pandora zusammen.10 Im Gefolge Ernst Blochs, den er 1967 traf, deutete Gáll die Büchse der Pandora als ein Symbol für die unfertige, unabgeschlossene Welt, die der Mensch als sein Heim noch einzurichten habe. Dem Zweifel und der Skepsis setzte Gáll den hoffenden Menschen gegenüber und sprach vom Vertrauen, das der Mensch trotz der widrigen Realitäten in die konstruktive Tat setzen solle. Der antike Mythos bot ihm die Folie für eine Philosophie der Hoffnung und Möglichkeiten, die er zur Prägung des Ausdrucks von der „Würde der Eigenart“ nutzte.11 Diese Würde zog er in Zeiten heran, da von Menschenwürde unter den auf die Assimilation der Minderheiten gerichteten Umständen keine Rede sein konnte. Jeder Entität, jedem Individuum, aber auch jeder (ethnischen) Gruppe komme das Recht zu, die jeweilige (ethnische, religiöse usw.) Eigenart zu bewahren, denn nur dies garantiere ein würdevolles Leben – so das Ergebnis von Gálls Beschäftigung mit Prometheus und Pandora. Als letztes Beispiel für eine Auseinandersetzung mit antiken Erzählungen sei auf den Essay Die Perser (1972) des Schriftstellers András Sütő (1927–2006)12 hingewiesen, der mit Gáll eng befreundet war. Bereits der Titel war als Anspielung auf die Lettres persanes des Montesquieu gedacht. Sütő fokussierte sich allerdings auf die von den Truppen Alexanders des Großen unterworfenen Perser und deren Schicksal nach der Errichtung der griechischen Herrschaft über Persien. Der Minderheitenschriftsteller stellte vor allem die der Hellenisierung, also dem Verlust ihrer kulturellen und sprachlichen Eigenart, ausgesetzten persischen Kinder und deren Mütter ins Zentrum seiner Gedanken. Dabei unterstrich er die Beharrungskraft der Muttersprache, die Möglichkeiten indirekten Widerstands gegen die Kräfte der Unterjochung und Assimilation. Sein Essay hatte damit eine eindeutig für seine Gegenwart bestimmte Botschaft an die Leser, den Appell, von den persischen Müttern zu lernen, die eigene Sprache und Kultur zu pflegen und sich der politischen Unterdrückung nicht zu beugen. In der Folgezeit verfasste der Schriftsteller vor allem Dramen über Michael Kohlhaas und Michael Servet.13 Dabei ging es stets um eine klare Botschaft an seine Gegenwart, denn in den Dramen sind moralisch-politische Aussagen über das Standhalten formuliert, die Würde und das Eintreten gegen politischen und religiösen Fanatismus.14

György Bretters Essays über antike Mythen, die er Parabeln nannte, vereinen über die bisherigen Beispiele hinausweisend sowohl allgemeingültige kulturanthropologische Deutungen als auch existenzialistische, also von der eigenen Lebenswirklichkeit ausgehende Interpretationen, welche Verbindung ihre Besonderheit ausmacht. Doch wer war Bretter eigentlich? 

3. György Bretter – ein Philosoph im Sozialismus 

Geboren wurde György Bretter 1932 in der ungarischen Stadt Pécs (dt.: Fünfkirchen). Nachdem Ungarn 1940 mit Unterstützung des nationalsozialistischen Deutschlands das sogenannte Nordsiebenbürgen zurückerhielt, siedelten seine Eltern dorthin über. Das Abitur legte er in der Stadt Sathmar (rum. Satu Mare, ung. Szatmárnémeti) ab und studierte anschließend Philosophie an der ungarischen Universität der Stadt Klausenburg (rum. Cluj, ung. Kolozsvár). Nach seinem 1954 erfolgten Staatsexamen arbeitete er für die lokale Parteizeitung und galt als überzeugter Kommunist. 1957 erhielt er eine Stelle an der Universität, damaligen Gerüchten nach, weil er als parteitreuer und junger Kader die Studenten „beaufsichtigen“ sollte.15 Der Aufstand in Ungarn, der auch in Klausenburg Wellen schlug, lag kaum ein paar Monate zurück. Von 1960 bis zu seinem frühen, krankheitsbedingten Tod 1977 unterrichtete er Philosophie v.a. an der Kunsthochschule der Stadt.16 Er galt als Freund der Budapester Schule und ihrer Vertreter (Ágnes Heller, Ferenc Fehér, Mihály Vajda). 

An der offiziellen Ideologie kam ein junger Philosoph in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht vorbei. Im Zentrum von Bretters Interesse stand aber die griechische Philosophie, was seinen antiken Essays (man beachte etwa die mehrfache Gleichsetzung der Sonne mit der Freiheit und dem Guten)17 ihr besonderes Gepräge gab. Doch befasste er sich auch mit dem deutschen Idealismus und in seiner nicht beendeten Doktorarbeit18 analysierte er Fichtes Vorstellung eines idealen Staates. Er publizierte Aufsätze und Essays über Karl Marx und Georg Lukács, übersetzte Louis Althusser ins Ungarische, befasste sich mit Albert Camus und Roger Garaudy und interessierte sich auch für sprachphilosophische Themen.19 Durch den Unterricht, durch Vorträge und durch sein Wesen, das die Zuhörer in den Bann zog, gelang es ihm, auch außerhalb der Kunsthochschule einen großen Bekanntheitsgrad zu erlangen. In den 1970er-Jahren sprach man bereits von der „Bretter-Schule“ und meinte damit eine Gruppe junger Philosophen, die von ihm beeinflusst und direkt-indirekt radikalisiert wurden.20 Etlichen gelang es später, in Rumänien oder Ungarn eine universitäre Karriere einzuschlagen (Péter Egyed, Gusztáv Molnár), einige reüssierten sogar im Ausland (Vilmos Holczhauser, Miklós Tamás Gáspár). Doch gehörten auch Schriftsteller (Gyula Szabó), Dichter (Zsófia Balla) und bildende Künstler (Ernő Ferencz) zu den von Bretters Werk und Lehre inspirierten Personen. Die Aufforderung zum Handeln, zur Wahrnehmung und Bewusstmachung des eigenen Schicksals, zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben wie das der Gemeinschaft, der man angehört, waren einige von Bretters Losungen, die sich im Ausdruck „Hier und etwas Anderes“ als Abwandlung des berühmten „Hier und Jetzt“ verdichtet hatten. Bei vielen seiner Schülern führten diese Losungen in den 1980er-Jahren zum Engagement in dissidentischen Kreisen (in Rumänien und/oder Ungarn) und zu ihrer Verfolgung durch die jeweiligen Sicherheitsbehörden, nach der Wende zum aktiven Politisieren (teils in liberalen oder linken Parteien) – ein Einsatz, der der Bretterschen Erkenntnis entsprang, dass zum „vollen“, d.h. sinnvollen und perfekten, Leben das Handeln und die Tat gehören. Diese Gedanken entwickelte der Klausenburger Philosoph in seinen essayistischen Mythendeutungen. Warum gerade in Essays und weshalb die antiken Mythen? 

 4. Der Essay als Mittel der/zur Freiheit. Zu György Bretters Parabeln

In etlichen Untertiteln seiner Aufsatzsammlungen benutzte Bretter den Begriff „Essay“ und mehrmals formulierte er seine Ansichten über dessen Wesen und Möglichkeiten.21 In einer Rezension über einen Sammelband mit englischen Essays wies er 1965 der Gattung eine intellektuelle Vermittlerrolle zwischen Poesie und Philosophie zu. Ihre Eigentümlichkeit bestehe darin, einem Mangelgefühl des Geistes Genüge zu tun, indem sie auf eine ganz spezielle Art und Weise Logik und Rationalität mit Gefühlen vermische. Der Essay drücke Sehnsüchte und innere Triebe gegenüber der Vernunft aus und gebe der Sehnsucht ein Objekt, dem Ziel eine Richtung und treibe den Willen zum Handeln. Der (englische) Essay denke anstelle des einzelnen Menschen und verstärke einen Wunsch und Anspruch der Gemeinschaft, die (von den Wissenschaften) bewusst noch gar nicht formuliert wurden. Er sei progressiv und übernehme die Ermittlung vorhandener Anlagen in Verbindung mit einer ethischen Haltung.22 In einer anderen Rezension, die (wie es im ungarischen Sprachraum üblich ist) eher den Charakter eines Aufsatzes trägt und mit Essays und Leben23 überschrieben ist, lobt er einen Autor, indem er meinte, dessen Texte reichen an die Qualität von Essays heran und er wähle aus der Vergangenheit bewusst das heraus, was eine Botschaft an das Heute habe. Bretter ließ diese Gelegenheit nicht aus, um festzuhalten:  

Auch wenn wir unsere Lage noch gar nicht soweit ermessen können, dass wir zu philosophischen Verallgemeinerungen gelangen könnten, können wir in einem Essay dennoch viel über unsere Epoche sagen. Nicht nur durch ein Porträt, sondern an je ein Phänomen uns klammernd können wir über unsere moralische Haltung, über die Kreise unserer Gedankenwelt und unseres Handelns, über unsere humanen Bedingungen [etwas sagen, F.H.]. In dieser Gattung ist sogar die Verzauberung der Gegenwart zur Vergangenheit möglich. Denn die Gegenwart wird gerade dadurch vergangen, dass wir zeigen – wie sie ist; wir ergreifen sie und zwingen sie zur Veränderung. In diesem Prozess kommt dem Zeigen der Vorrang zu. So kann auch der Essay selbst zur Tat werden. Unter vielen anderen kann auch das Schreiben zur Tat werden.24

Das Programm Bretters sah demnach die bewusste Behandlung von Themen vor, die etwas über die Gegenwart aussagen sollten. Dieses Etwas sollte jedoch (wie in Parabeln) nur gezeigt werden. Den Schritt zur Übertragung auf seine eigenen Lebensverhältnisse überließ Bretter dem Leser, wodurch der Essay zur Tat werden sollte. In seinem bereits zitierten Lebenslauf bekannte er:  

Ich schreibe Essays über ethisch-anthropologische Fragen, weil ich glaube: Das Problem des Menschen ist die ernsthafteste Sache. […] Meine Arbeit als Lehrer hält mich dazu an, die karge Hülle der ausgesprochenen Wahrheiten zu bersten und in die Abstraktion eine sinnliche Ladung hineinzuschmuggeln und etwas über die Welt anzudeuten zu versuchen, was ich für richtig halte, aber anders nicht sagen kann.25

Das Unvermögen, sich adäquat auszudrücken, bezieht sich hierbei nicht nur auf die Grenzen des sprachlichen Ausdrucksvermögens, die Bretter, der auch hierüber publizierte, bekannt waren, sondern es war selbstverständlich politischer Natur. Schließlich hält Bretter in seiner Einleitung zum Aufsatzband Dialog mit der Gegenwart [Párbeszéd a jelennel] („Dialog“ ist neben „Wunsch“ und „Essays“ das häufigste Wort in seinen Buchtiteln) unter anderem die größeren Möglichkeiten fest, die der Essay einem Autor biete. Sobald ihm ein banales Thema Anlass biete zu schreiben, könne er sich der Magie des Essays hingeben und entfernt erscheinende Tatsachen miteinander verbinden, aus neuen Begriffen weitere Termini herausschälen und die Freiheit nutzen, Neues zu entwerfen. Das Schreiben von Essays sei daher eine Stellungnahme für oder gegen Ansichten, eine Stellungnahme im Namen der Ratio und der Vollendetheit „gegen die Leere, die Flachheit, die der Banalität erwachsene Langeweile. Wir möchten also etwas Sinnvolles sagen und das schön und […] sogar spannend“.26

Bretters Essaybegriff beinhaltet somit einen geschützten Freiheitsraum, um im Kontext historisch fern angesiedelter Themen und Personen ethisch und anthropologisch relevante Kategorien zu erörtern, zu entwickeln und durch eine Parabel zu den Zeitgenossen zu sprechen, um Stellung zu beziehen und die Leser an die im Menschen vorhandenen Anlagen zu erinnern, sie zu einem erfüllten, sinnhaften und humanen Leben zu ermahnen. Auch wenn er in seinem Lebenslauf behauptet, er wisse nicht, ob das, was er mache, Philosophie sei, kam seine Vorstellung über das Wesen und die Funktionen des Essays seinem Philosophiebegriff nahe. Er definiert die Philosophie als menschliches Grundbedürfnis nach einer Totalität bzw. einem Grundsatz, der eine umfassende Antwort auf menschliche Fragen hat.27 Diese Totalität oder Vollendetheit sei dem Menschen (etwa durch die Atomisierung der Welt und der überschaubaren Wissensbereiche) abhandengekommen. Die Philosophie versuche, sie zumindest begrifflich wiederherzustellen und eine Unendlichkeit (ohne im Besitze von Detailwissen zu sein) zu begreifen – was zugleich ihre Paradoxie ausmache. Der Philosophie gehe es somit um Perspektiven, um das Aufzeigen von menschlichen Möglichkeiten zwischen den Bereichen, die bereits bekannt oder noch unbekannt, aber vorstellbar sind. Sie verweise damit gleichsam wie ein dynamisches Modell bzw. einen Prozess über eine Grenze hinaus – in die Richtung einer humaneren Welt. Damit trage sie zum Vertrauen in die menschliche Tat bei und sei als Lehre vom Menschen der Nachweis, dass „das richtige Handeln in gesellschaftlicher Hinsicht die konstruktive Tat, das Bauen des Neuen mit humanen Mitteln“ sei.28 Denn man könne keine neuen Werte durch das Niedertrampeln anderer Werte erschaffen, so Bretter in seinem Aufsatz, den er 1966, kurz vor seinem ersten „griechischen“ Essay (Die Legende des Ikaros) schrieb. Lediglich zehn-fünfzehn Jahre nach dem Wüten des Stalinismus, im Zuge dessen alle nichtsozialistischen Werke und Denker (nur allzu häufig auch körperlich) eliminiert wurden, brauchte Bretter seinen Zeitgenossen nicht erklären, worauf er anspielte. Die Philosophie begriff er demnach als einen eigentümlichen, grundmenschlichen Zwang zum bewussten Denken und Handeln, der sich gegen die Wärme des Konformismus richte und den Menschen nötige, seine Lage und Chancen zu erkennen und zu ergreifen:  

Sie ist die Verlängerung und Erhebung unseres Seins. Das birgt für uns eine große und die vielleicht menschlichste Möglichkeit überhaupt: Wir heben unser individuelles Sein durch die Philosophie auf die Ebene des Kosmos und lassen unser individuelles Schicksal mit den Koordinaten des Gedankens ins Unendliche laufen.29

Inwiefern nutzte Bretter nun die antiken Mythen, um seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten? Es dürfte aus dem Vorangegangenen bereits offensichtlich geworden sein, dass die existenzialistischen Mythendeutungen (Die Legende des Ikaros, Das Dilemma der Kentauren usw.) nicht lediglich eine thematische Flucht aus der Gegenwart in die antike Welt darstellten. Bretter wollte durch sie vielmehr an seine Zeitgenossen bewusst die Botschaft richten, dass aus den Schranken jeder Epoche ausgebrochen und Verantwortung sowie eine selbstbewusste Lebensführung übernommen werden können. Seine sieben (zwischen 1967 und 1972 erschienenen) Parabeln decken thematisch hochphilosophische Bereiche ab wie die Überschreitung der Immanenz zur Transzendenz, die Zeit, das menschliche Maß oder das Verhältnis Mensch-Gott. Doch kann man sie auch anthropologisch als Kampf der Generationen (Ikaros), als Nachsinnen über das Menschsein (der Kentaur) oder als Nachdenken über die Hintergründe erotischen Begehrens (Apollon) auffassen. Die in den Essays auftauchenden Gedanken sind inhaltlich miteinander verwandt, ergänzen einander und führen manche Aspekte fort, als seien sie alle zusammen Teile eines kollektiven Ganzen, einer urzeitlichen Gesamtheit und eines Gedächtnisses bzw. einer solchen Sprache.30

Die von ihm gewählten Figuren (Ikaros, der Kentaur, Laokoon, Chronos) stehen (wie der jüdisch-ungarische Philosoph selbst, der linke, aber nicht mehr dogmatisch-marxistische Denker Bretter) zwischen zwei Welten: Sie müssen sich zwischen einer diesseitigen Scheinwelt, einer leeren und flachen Welt des unbewussten Dahinlebens, das überwunden werden muss, und der bewussten, verantwortungsvollen und gemeinschaftlichen Welt entscheiden, wobei letztere natürlich die wahre Welt ist. Die erste Möglichkeit ist dem Heute verpflichtet (und verfallen), welcher Gefahr alle Menschen ausgesetzt sind. Die zweite Möglichkeit ist die der Zukunft und des Zukünftigen, wohin der Mensch gelangen kann, falls er sich und seiner Anlagen bewusst wird. Bewusstes Handeln erschaffe persönliche Identität und erst die daraus entstandene Tat weise eine moralische Qualität auf. Im Falle des Ikaros geht es um den Gegensatz der hiesigen Welt der Gegenwart, einer Welt des kompromissbereiten Vaters und der Welt der Sonne, die für die Höhe, das Erhabene, das schrankenlose Leben in der Zukunft steht. Ikaros sprengt die Schranken seiner Zeit und flieht ihr (unverstanden) davon. Der Kentaur versucht, die Welt des Menschen und die der Tiere, die der Ratio und jene der Instinkte in sich zu vereinen. Letztlich bleibt er jedoch eine „Halbheit“ und seine Entwicklung stellt keine echte Progression, keinen wirklichen Fortschritt mit Konsequenzen für die Gesellschaft dar. Laokoon schließlich unternimmt das Unmögliche, zugleich Diener zweier Herren – der Götter und der Menschen – zu sein und scheitert daran (was er im Voraus wusste und als sein Schicksal akzeptierte). Auch im Falle des Chronos geht es darum, das eigene einem selbst gegebene Sein und Schicksal anzunehmen, die Erkenntnis in eine Tat umzuformen, die in der Lage ist, in den Fluss der Zeit einzugreifen und handelnd eine Identität zu gewinnen. Apollon wiederum, der selbstverliebte und egomane Schönling, ist auf der Jagd nach der grenzenlosen Befriedigung seiner Bedürfnisse, seiner Rachesucht wie auch seines Liebeswunsches. Doch anstatt ein Wissender über die Zukunft zu werden, lernt er in seinem Strafjahr unter den Menschen die Notwendigkeit des Maßes, der Mäßigung und des Maßhaltens. Erst unter den Menschen akzeptiert er sein Sein und besiegt damit sich selbst und die Welt, weil er das Risiko der Selbstprüfung auf sich nimmt und so die menschliche Solidarität erfährt, deren Befehl lautet: „Erkenne dich selbst“. So erst kommt es zur Vereinigung Apollons, des Schönen, mit der Sonne, dem Guten und somit zur Wärme und Zuversicht. Silen gleicht im Essay, den Bretter ihm widmete, schließlich einem Weisen, der sich vom Wahn(sinn) nicht berauschen lässt. Obwohl er Teil der Prozession des Dionysos ist, vermag er Distanz zu halten. Bretter beschreibt in diesem Essay eigentlich die Auswüchse millenarischer und chiliastischer Welterlösungsbewegungen, seien sie von rechts oder links kommend: Das Wetteifern darum, wie von Silen beobachtet, wer der echte und der größere Anhänger des Dionysos ist, stellt eine kaum verdeckte Anspielung auf die ideologischen Perversionen des Stalinismus und des Faschismus mit ihren Identitätsfanatismen dar. Dionysos ist hierbei der große ideologische Verführer, dem die verzweifelte und unwissende Menge auf den Leim geht. Bretter geißelt die Gewalt, die Unduldsamkeit und den Terror seiner Zeit durch den Spiegel des Mythos. Das Problem Silens war zweifellos auch seins: „Was soll mit dem geschehen, der, wie Silenus, mehr weiß, als was er unternehmen kann und der langsam in die weiche Tiefe der Schlucht zwischen der Sehnsucht und den Möglichkeiten sinkt?“31 Auch Bretter war (wie Silen oder Ikaros) gefangen in den Zwängen seiner Zeit. 

Im letzten Essay deutet Bretter keine Gestalt der griechischen Mythenwelt, allerdings sind die Lebensumstände Heraklits von Legenden umwoben, sein Denken gilt als besonders unverständlich und die wenigen überlieferten Fragmente sind Untersuchungsgegenstand von Philologen wie von Philosophen. Bretter begreift den Philosophen als (unverstandenen) Lehrer seiner Gemeinschaft. Heraklit erkennt die Irrtümer seiner Zeit und weiß um die Sinnlosigkeit des Treibens, des Rausches („Feuchte“), der den Alltag seiner Mitbürger beherrscht. Doch dringt er mit seinen Mahnungen und Erkenntnissen nicht durch und muss (so wie Ikaros) dessen gewahr werden, dass manchmal die objektiven Umstände der Zeit der Verbreitung bestimmter Ansichten abträglich sind. Der Philosoph erscheint als Eingeweihter und Wissender, der die Falschheit, den Irrweg und die Irrtümer seiner Zeit (er)kennt, jedoch von der Menge verlacht wird, die sich nicht traut, sich mit dem eigenen Leben und den eigenen Grenzsituationen (Zeitlichkeit) zu konfrontieren. Dieser Essay verdeutlicht die Nähe Bretters zu Platon am besten. 

Von seiner Bedeutung her kommt dem Ikaros-Essay eine Sonderrolle zu, die sich auch darin äußert, dass er der erste Beitrag der Essay-Sammlung ist. Bretter ließ durch Ikaros die Frage aussprechen, die sich (auch in Siebenbürgen) selbstkritische Marxisten nur zu selten stellten: „Ist es rechtens, im Namen abstrakter Wahrheiten einen Menschen zu vernichten, ist es rechtens, das Werk des Menschen gegen den Menschen zu kehren?“32 Und wenn die Antwort des Bretter-Ikaros lautet: „der Logik der Vernichtung muss das Recht des Lebens gegenübergestellt werden“33, dann war sie sowohl lokal gemeint als auch universell gültig. Ikaros, seine Entität und Identität, konstituierte sich durch sein Handeln selbst und unterwarf sich nicht dem Kollektiv: „Mit seiner Tat verwarf er das moralische Kriterium, die ethischen Normen der Zeit und wurde selbst zum Maßstab. Seine Tat gehörte nicht der Gegenwart an, sondern etwas anderem, vielleicht der Zukunft.“34 Bretter wiederum erhob Ikaros samt den Dilemmata, Fragen und Qualen zu einem anthropologisch bedeutsamen Individuum, dessen Handeln Richtschnur im weltweiten Maßstab sei: „Ikaros ist aus den Labyrinthen ausgebrochen und hat so ein grundlegendes Problem der philosophischen Anthropologie gelöst: Im Verhältnis zum Lebensgefühl bestimmte er die Tat als primär und anstelle der raffinierten Adjektive des Verzichts hat er das Handeln an die Herrschaft gelangen lassen.35

Die Protagonisten in den von Bretter gedeuteten Mythen sind also stets allein, allein gelassen. Sie stellen sich Traditionen und ihrer Gemeinschaft entgegen, denn in ihrer Bewusstheit erkennen sie, dass sie dies tun müssen, dass ihnen ein solches Schicksal aufgetragen wurde. Dabei sind sie stets unterwegs zwischen zwei Polen, Existenzweisen oder Welten bzw. Zuständen, zwischen Interessen (den eigenen und fremden) und Zielen. Das Schicksal ist aber noch kein Verhängnis, auf das kein Einfluss genommen werden könnte, so Bretter an seine Zeitgenossen. Die Schranken der eigenen Zeit können durch die in Handeln und Tat umgesetzte Erkenntnis überwunden werden und damit könne man der eigenen Zeit voraussein.  

In der ungarischen philosophischen Essayistik besitzen Bretters Essays ihren angestammten Platz und keine Anthologie ungarischer Essays verzichtet z. B. auf seine Legende des Ikaros. Keine geringeren als Ágnes Heller oder Imre Kertész rühmten sich ihrer Bekanntschaft bzw. Verwandtschaft mit ihm. Es wäre wohlfeil und daher falsch, Bretter unter Hinweis auf die damaligen politisch-sozialen Gegebenheiten Romantizismus, einen Kult des Individuums und des Heroischen vorzuwerfen. Denn viele Aspekte seines Denkens, so etwa seine Verpflichtung zur Gemeinschaftlichkeit, seine Thesen zur Bedeutung von historischen Alternativen und deren Zusammenhang mit der reellen Gegenwart usw. konnten (und sollten) hier nicht erläutert werden. Eine monographische Analyse seines philosophischen Oeuvres steht noch aus. Selbstverständlich war er sich all der Grenzen des Handelns unter den Umständen einer Diktatur bewusst, deshalb griff er auf die antiken Mythen zurück. Mit ihrer Hilfe wollte er auf die Möglichkeit anthropologisch integrer Persönlichkeiten selbst unter den Bedingungen einer Diktatur hinweisen und hervorheben, dass auch unter solchen die Freiheit des Individuums eine des Geistes ist und dort beginnt, wo er (der Geist) herrscht: im individuellen Bewusstsein. Das Schreiben (u.a. von Essays) ist somit auch in den finstersten Zeiten eine Freiheitstat des Geistes. 

Alle Übersetzungen aus den ungarischen Originaltexten von Franz Sz. Horváth. 

György Bretter: Die Legende des Ikaros36

Ins Deutsche übertragen von Franz Sz. Horváth 

Man erzählt, dass Daidalos, der Vater des Ikaros, seinen Sohn ermahnte: Er solle nicht zu nah am Meer fliegen, denn die Wellen könnten ihn verschlingen, noch zur Sonne, denn seine Flügel aus Wachs könnten schmelzen, und er in die Tiefe fallen. Ikaros hörte nicht auf den Rat, die Sonne zog ihn in ihren Bann und dafür bezahlte er mit seinem Leben. 

Daidalos hatte seinen Sohn also gewarnt, ihm seine ganze Lebenserfahrung anvertraut, als er ihn zum Mittelweg trieb, aber Ikaros hörte nicht auf ihn; und so ging er zugrunde. Die Frage ist: Hatte Ikaros das Recht, zu sterben? 

Ikaros wollte nicht den Tod, also besaß er das Recht, zu sterben; da er das Leben wollte, musste er sterben. Die Weisheit des Daidalos war Ikaros nicht genug; die Weisheit der ganzen Welt genügt dem nicht, der nach der Sonne strebt. 

Die Weisheit ist die angehäufte Erfahrung, die gefilterte Essenz vergangener Verhaltensweisen, aber kein Modell zukünftigen Verhaltens. Wer in die Höhe fliegt, verliert die faktische Vergangenheit, denn die Gegenwart wandelt sich für ihn zur Vergangenheit. 

Ikaros konnte sich entscheiden: Entweder er hält sich fern der Sonne oder er stirbt; und er entschied sich. Daidalos erblickte in seiner Entscheidung nur die ungestüme Unüberlegtheit der Jugend, doch befand er sich damit im Unrecht. Denn Ikaros zauberte sich mit seiner Entscheidung älter als es sein Vater war: Er ließ die Zukunft als Gegenwart aufblitzen, er überholte das eigene Sein und das des Vaters. 

Diese Entscheidung war nicht unbedingt das Resultat einer bewussten Wahl: Sie entsprang vielmehr dem Wunsch nach Erkenntnis. Dennoch formulierte Ikaros durch seinen Flug zur Sonne ungewollt die grundlegende Frage der philosophischen Anthropologie: das Problem des Verhältnisses zwischen den objektiven Bedingungen der Zeit und den subjektiven Bedingungen des Menschen.  

Ikaros entflog dem Zeitalter der Wachsflügel, obwohl die Weisheit der Zeit ihn warnend ermahnte. Dennoch flog er der Sonne um 2000 Jahre näher, als es die Umstände erlaubten: Deshalb ging er zugrunde. Er wählte die Zukunft und stürzte aus der Höhe ab. Doch er wählte das Leben, nicht den Tod. 

Die Problematik der Wahl bezog sich eigentlich gar nicht auf das Leben oder den Tod, sondern darauf, ob er die Weisheit der Väter annimmt oder nicht. Ob er auf den ausgetretenen Pfaden voranschreitet oder etwas anderes suchen soll, die Sonne, das Licht anstelle des Graus. 

Ikaros wählte die Strahlen. Aber besaß er das Recht, etwas anderes zu wollen, als das, was sein Vater für ihn ausgewählt hat? Er besaß es nicht. Denn die Pflicht des Daidalos bestand darin, im Namen des Lebens, der Sicherheit den Weg seines Sohnes zu bestimmen; das Recht des Sohnes wird bestimmt durch die Pflicht des Vaters. 

Er widersprach, durch sein Verhalten verletzte er das Gewohnheitsrecht, seine Vernichtung könnte daher als eine Strafe erscheinen. Aber verdient jemand eine Strafe, der die Sonne anstelle des Graus wählt? Das ist keine Frage des Verdienstes. Jede Epoche straft bewusst-unbewusst, ihre Grenzen vernichten die Taten, die Flügel, die ihre unteren oder oberen Grenzen verletzen. 

Hat es sich für Ikaros gelohnt, die Strafe zu übernehmen? Seine Entscheidung implizierte von vornherein die sichere Strafe, aber das beeinflusste seine Antwort mitnichten; für ihn hat sie sich also gelohnt. Wir können ihm seine Tat nicht vorwerfen. Er war sich ihrer Konsequenzen bewusst, dennoch entschied er sich für die Sonne. Dabei hätten ihn seine Wachsflügel auch nach Hause tragen können, wonach ihm Kinder geboren worden wären, denen er die väterliche Weisheit hätte weitergeben können. Als Vater kann er seinen Sohn womöglich höher steigen lassen, etwas näher an die Sonne oder tiefer, etwas näher an die Wellen. Ungeduldig war er, kein bedächtiger Architekt, sondern wagemutiger Planer. Deshalb stürzte er in seinem Flug hinab. 

Warum eilte Ikaros in die Sonne? Weil er in ihr die unbefleckte Reinheit spürte und sich mit ihr vereinigen wollte, weil er keinen Kompromiss wollte, wies er jeden Handel zurück. Mit seiner Tat verwarf er das moralische Kriterium, die ethischen Normen der Zeit und wurde selbst zum Maßstab. Seine Tat gehörte nicht der Gegenwart an, sondern etwas anderem, vielleicht der Zukunft. 

Für dieses „vielleicht“ opferte er sein Leben. Ob dieses „vielleicht“ ein Opfer verdient? Die dunkle Ahnung der Unsicherheit, der Entfernung? Das ist kein Dilemma, sondern stets das Problem des Handelns, der Entscheidung, des im Menschen aufblitzenden Handlungszwangs. Der Gedanke und die Überlegung geraten in den Hintergrund, und die Tat wird erneut, wie im Urzustand, primär. 

Aber Ikaros hat sich in seiner Tat nicht mehr selbst erkannt, die Nachfahren müssen in seiner Tat sich selbst erkennen. Wenn ein Mensch den Weg des Ikaros annimmt, wann auch immer, dann hat sich das „Vielleicht-Opfer“ gelohnt. Wenn der Mensch sich in Ikaros erkennt, dann war dessen Untergang sinnvoll und wird etwas schön, was an sich weder schön noch hässlich ist: der Tod. 

Als er in die Sonne stürzte, konnte er nicht wissen, ob man seine Tat annehmen würde oder nicht, ob sie sich lohne oder nicht. Nichts wusste er, sein Handeln war Zwang. Ikaros ist die Grenzenlosigkeit der konstruktiven Tat; der Jüngling, den die Götter lieben, weshalb sie ihn früh in den Himmel heben.  

Und so löste er – bezogen auf einen sonderbaren Fall – die Gleichung der Anthropologie: Die subjektiven Möglichkeiten können die Grenzen der Zeit nicht überwinden, doch die Tat kann diese Grenzen zerstören. Die Handlungen erschaffen neue Normen, Ikaros wird zum neuen Horizont. Und darin liegt die Tragödie des Ikaros. 

Nein, das ist kein persönliches Verhängnis, sondern eine Tragödie. Denn Ikaros wurde bemitleidet, dabei bedurfte er keines Mitleids. Man bewunderte ihn nicht, folgte ihm nicht, nur langsam mit unwürdiger Schleicherei und merkte dabei nicht, dass man ihm nacheiferte. Seine Tat wurde zu keinem pfeilgeraden Weg, sondern zu einer mit geschlungenen Pfaden durchschnittenen Wiese, auf der die Nachfahren bequem wanderten und ihre kleinen Kompromisse dem Leben Tag für Tag abrangen. 

Und dennoch hat es sich gelohnt, dennoch musste er dies tun: Die Tat fiel in Ikaros in ihre eigene Genese zurück, wie wenn das Lohnenswerte und das Müssen sich vereinen. Ikaros war gewissermaßen lebensunfähig, wenn das Leben lediglich ein Handeln zur Bewahrung der Existenz ist, wenn der Lebensprozess die Herstellung von Urteilen und Vorurteilen in immer neuen und anderen Legierungen ist. 

Damit Ikaros sich entscheiden konnte, musste er mit den ihm anerzogenen Vorurteilen abrechnen. Sein Vater, der große Architekt, baute geradezu das Meisterwerk der Vorurteile und Kompromisse – das Labyrinth des Königs Minos, in dem Minotaurus, das Monster, weder leben noch sterben konnte. Was konnte denn Daidalos seinem Sohn überhaupt einflüstern?! Das Rasen des Ikaros zur Sonne hin war die einzige Chance, den Labyrinthen zu entkommen, irgendwohin, wo die Vorurteile die Tat noch nicht verunstaltet haben, wo die Konsequenzen noch rein sind und niemandem Schmerzen verursachen. 

So warf Ikaros das andere große Problem der philosophischen Anthropologie auf: die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Tat und den Konsequenzen der Tat. Er gab sein Leben für seine Tat, zog also die ultimativen Konsequenzen. War er nicht mehr verantwortlich? Kann denn überhaupt der Tod die Konsequenz des Lebens sein? 

Ein Leben kann einen bestimmten Tod bestätigen, aber der Tod kein Leben. Die tragische Konsequenz des Ikaros entstammte seinem Leben, jenem Leben, das das ganze Labyrinth des Überdrusses eingesehen hatte und einen Ausweg nur in der Sonne fand. Er wurde zu keinem Selbstmörder, sondern fand den einzigen für ihn möglichen Ausweg. 

Und noch einmal: War er nicht verantwortlich, weil er gerade diesen Ausweg aufgezeigt hatte? Denn die Lösung des Individuums kann zu keinem Wert werden, nur dann, wenn sich in ihm die Verantwortung herauskristallisiert. In der Tat des Ikaros strahlt der Anspruch der Handlung selbst, der der Veränderung, die immer zeitgemäße Verantwortung und nicht der Anspruch eines Wie. Denn es gab Zeiten, die die Handlung in ein Labyrinth zwang. Ikaros konnte dennoch handeln, denn man kann immer handeln, wenn auch nicht aufsehenerregend, doch man kann und man muss auch. Verantwortlich sein bedeutet so viel wie verändern, sich nicht abfinden, formen, abwandeln, etwas anderes wollen. Ikaros wusste das. Er sah das Labyrinth. Er wusste, dass im Labyrinth nur Minotaurus, das abgetriebene „Weder-Mensch-noch-Tier“ leben kann, dass das menschliche Dasein nur ein menschliches Dasein sein kann, dass das Sein eines Wurms nur das eines Wurms sein kann und die Wahrheit darin besteht: dass der Mensch das Wurmsein nicht akzeptieren dürfe. Dafür muss man handeln, ansonsten geschieht die unwiederbringliche Verwandlung. Ikaros konnte daher nichts anderes tun: Er verwandelte sich in die Sonne, das Licht, das Beispiel. Er wählte die Wahrheit. 

So gab er eine weitere Antwort auf ein Problem der philosophischen Anthropologie: Die Wahl, die die Metamorphose des Menschen hervorruft, trägt nur dann die Wahrheit in sich, wenn sie in ihrer Tendenz nach vorne zeigt, zum Menschlicheren hin. Die Reinheit der Wahrheit hat einen unerbittlichen Maßstab: die Freiheit. 

Ikaros wählte die Freiheit. Nicht das absolute Schweben der Bindungslosigkeit, sondern die Freiheit der Tat, die nach vorne zeigt. Er war kein Moralist, denn dann hätte er auf das Handeln verzichtet: Ikaros, der Moralist, hätte Mitleid mit seinem Vater gehabt, mit den mit Vorurteilen aufgedunsenen verwandtschaftlichen Tränensäcken. Er hätte sich selbst bemitleidet. Aber er war kein Moralist. 

Er konnte kein Moralist sein in einer Zeit, in der die vorurteilsvollen Menschen alle Urteile vernichteten, indem sie die Köpfe abgeschnitten haben. Er wusste: Eine Freiheit, verkündet im Namen des Todes, ist keine Freiheit. Er sah deutlich: Es können keine Völker durch die Vernichtung anderer Völker geboren werden, niemand hat das Recht, Völker zu Müllhaufen der Geschichte zu erklären. 

Ikaros wusste all das und er protestierte im Namen der Freiheit, der Reinheit, des Lichts. Seine Epoche ermöglichte ihm nur so viel. Sein Sturz war ein einziger großer Protest: Nachdem man ihn gesehen hatte, konnte man den Blick nicht mehr mit einer, die Schwäche verbergenden Feigheit auf den Boden richten. Nur noch auf ihn, nur nach oben hin. 

Ikaros legte Zeugnis ab: Es gibt einen Horizont, auch dann, wenn die Zeit die Welt mit unbarmherzigen Labyrinthen vollstopft. Die Perspektive kann man nicht nehmen und wenn es sonst nichts gibt, dann ist der Horizont die Freiheit, das erhobene Haupt, das reine Sein. 

Daidalos, der alte, geniale Architekt, ängstigte sich im Namen des Lebens um den unbesonnenen Jüngling: Er war im Unrecht. Er selbst schrieb seinen Namen mit seinem Meisterwerk ins Gedächtnis der Nachwelt ein. Aber die Nachwelt braucht auch Vorbilder, nicht nur Meisterwerke. Aus diesen lernt sie den Respekt des menschlichen Talents, das die Zeit besiegt, aber nicht den Sieg über die Zeit. 

Ikaros steht für beispielhaftes Verhalten. Wir können es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er so einsam war, dass er nur allein schrie. Die Schuld trägt seine Epoche. Aber er musste sich mit der Frage auseinandersetzen: Ist es rechtens, im Namen abstrakter Wahrheiten einen Menschen zu vernichten, ist es rechtens, das Werk des Menschen gegen den Menschen zu kehren? 

Und jener Ikaros, der sich im Klaren darüber war, wie töricht es ist, ein Labyrinth zu bauen, wusste, dass auch der Mord seine Logik besitzt, und er durchschaute den Kampf des in die Ecke gedrängten menschlichen Handelns. Still formulierte er in sich die für ihn einzig mögliche Antwort: Der Logik der Vernichtung muss das Recht des Lebens gegenübergestellt werden. Durch das Recht der reinen Tat, die beispielhaft ist, muss die Arbeit zur Schöpfung veredelt werden.  

Das Recht des Lebens – das Recht der Tat. Der seines Handelns beraubte Mensch lebt nicht. Der Sinn des Handelns ist die Freiheit, die Schöpfung. Sein Ziel ist eine Gesellschaft, in der es nicht möglich ist, die menschliche Arbeit gegen den Menschen zu kehren, die Schöpfung gegen den Schöpfer zu wenden, in der die Geschöpfe des Menschen nicht mit einer unbarmherzigen Fremdheit dem Menschen gegenüberstehen. 

Ikaros ist somit eines der ersten Beispiele des aktiven Eintretens gegen die Entfremdung. Er war derjenige, der das Problem der Entfremdung vielleicht als erster formulierte: Warum verhält es sich so, dass das Labyrinth als Schöpfung, als die externalisierte Manifestation der menschlichen Kraft, den Menschen wie eine fremde Macht in die Falle lockt, dass dieser also das Opfer seiner eigenen Schöpfung wird? 

Sollte dies das ewige Schicksal des Menschen sein? Nein, die Entfremdung dauert so lange, bis die im gesellschaftlichen Feld angesiedelten Gruppen den vollständigen und allseitigen Verkehr zwischen Individuum und Gesellschaft verschließen, bis die Gruppen mit ihrem falschen Bewusstsein eine unüberwindbare Mauer zwischen die Gesamtheit von Individuen und Gesellschaft errichten. 

Für Ikaros wird die Sonne zum Symbol des echten Humanismus, der Einheit von Individuum und Gesellschaft. Mit seiner Tat baute er, die Geschichte weit überholend, eine Brücke über den Antagonismen, die sich als Bogen über dem siedenden und brodelnden gesellschaftlichen Feld spannte. 

Er war demnach eigentlich kein Individualist, war kein in sich fallender, seine Individualität verabsolutierendes, nur in und für sich existierendes Menschenkind. Eine andere Menschlichkeit blitzte in ihm auf: die Unerbittlichkeit der Reinen, auch dann, als die Vollkommenheit, das Humanum lediglich als reine Utopie erschien. 

Doch er war kein Utopist und auch kein Amokläufer eines idealen Horizonts, der verständnislos durch seine Epoche hindurchwatet und nach dem Unerreichbaren greift. In Ikaros manifestierte sich die abstrakte Möglichkeit in der Form einer frühgeborenen Wirklichkeit. Es ist ein bisschen wie das Spiel des Schicksals, dass Menschen, die dereinst recht bekommen werden, zu Vertretern einer solchen Epoche werden, zu der sie ansonsten keine Verbindung haben, die sie in Gänze gar nicht verstanden hat. Keineswegs deshalb, weil sie unverständlich sind, sondern weil all ihre Taten dem Gewohnten widersprechen, dem, was man von ihnen erwartet, weil sie etwas Fernes in sich haben und für die Besessenen etwas Unfassbares, Dunkles. Das ist nicht das Schicksal der Propheten, die mit Vorhersagen die Zukunft erschaffen wollen, auch nicht das von Weissagern, die mit zornigem Posaunenton das Bild der Zukunft tatsächlich erschaffen. Das ist das Schicksal eines jeden Ikaros, der sich nicht auf die Kraft des Wortes, des Bildes stützt, sondern jene Handlung, die das Wort und die Bilder erzeugt, zu einem Symbol reifen lässt. 

Ob er an die Kraft seiner eigenen Tat glaubte, ob er Schmerz angesichts des selbst erzeugten Schicksals verspürte? Offensichtlich beschäftigte ihn das Problem des Untergangs, stießen in ihm Schmerz und Glauben zusammen. Der Tod ist seins, die individuelle, nicht übertragbare und nicht nachzuempfindende Endlichkeit. Für andere ist der Glaube Vertrauen, die Möglichkeit, einen Ausweg zu finden. Sterben im Namen des Glaubens? Nein, in Ikaros finden wir nichts an Voreingenommenheit: Er flog um der Freiheit willen in die Sonne. 

Doch für welche Freiheit starb Ikaros? Ist die Freiheit eine abstrakte Wahrheit oder, wenn sie das nicht ist, dann lediglich die Gesamtheit der Möglichkeiten, das Maximum innerhalb der Schranken der Epoche? 

Nein, die Freiheit kann nicht die Einheit der Erkenntnis und der begrenzten Taten sein. Die Erkenntnis wagt sich immer weit hinaus, die Tat muss ihr auch folgen. Die Freiheit: die die Schranken zerschmetternde Tat. Wenn Millionen hungern, ist eine solche Tat noch notwendiger, denn die Schranken zwingen den Menschen in die Knie und ihn aufzurichten bedeutet, die Epoche zu transzendieren.  

Aufrichten? Wir wissen, Ikaros war kein Moralist: Das Aufrichten deutete er nicht als Erlösung, sondern als jemand an der Spitze, der beweist, dass die Möglichkeit des Handelns dem Menschen nicht entwendet werden kann. Und wenn an den Grenzen der Umsetzung der Möglichkeiten Bajonette und Panzer wachen? Nein, lasst uns das Ikaros nicht mehr fragen; schließlich gelangten die Menschen erst im Laufe der Jahrtausende zu dieser Frage. Doch beschritten sie den Weg des massenhaften Handelns als die Zeit reif wurde. Bis dahin ließen sie in sich den Widerstand á la Ikaros wachsen und als die Zeit reif für den Gedanken wurde, dann haben sie ihr Leben massenhaft geopfert um der Freiheit der Tat willen. 

Dennoch findet in Ikaros die in den Labyrinthen entsetzte Zeit auf sich, sie nimmt ihn mit und zaubert ihn damit zeitlos. Nicht die Form seines Aufstands, sondern seine unbezwingbare Sehnsucht nach Reinheit, sein in die Möglichkeit der Tat gesetzter Glaube wurden zu einer Norm. 

Das sind solche Züge seiner Persönlichkeit, die jenes anthropologische Problem vervollständigen und beantworten, was denn die vollständige, integre Persönlichkeit sei. Das bedeutet nicht nur Wissen, denn das Wissen in all seinem Umfang anzueignen, ist unmöglich; nicht nur das aufmerksame Überblicken dessen, welche Schranken dem Handeln gesetzt sind. Sondern es bedeutet die Tat, die Belagerung der Schranken. Und wenn die Zeit noch nicht reif ist, dann das geduldige und dennoch kühne Jäten der Vorurteile. Und wenn die Vorurteile noch nicht reif sind, um gejätet zu werden? Dann die Ausstrahlung des in die Zukunft gesetzten rationalen Glaubens. Ein solcher Glaube strahlte aus Ikaros in die Zukunft. 

Denn auch Ikaros ist zur Sonne geworden: Er machte die gnadenlose Feuerkugel menschlich: Er verstand das ihr entsprungene Leben, also vereinigte er sich mit ihr. Da zählte es gar nicht mehr, dass diese finale Begegnung ihn sein Leben kostete, denn darin bestand seine Freiheit. 

Ikaros ist nicht der Robinson der Sonne, des Lichts, der Reinheit. Ein Mensch ist er – mit gewiss dunklen und vielleicht unreinen Sehnsüchten. Ein Teenager mit unbestimmten Ahnungen: Aber in dem Moment war er in der Lage im Sinne der wahren Möglichkeiten des Menschen zu handeln, nicht so wie sonst, als die eifrig verdeckten Verzerrungen Überhand nehmen und die Tat zu einer Verstauchung wird. 

Daidalos hat seinen Sohn nicht verstanden: Er konnte ihn auch nicht verstehen, denn er hat für sich selbst nie die Vollkommenheit der Tat herauskristallisiert. Auch in seinen Sohn projizierte er irgendwann nur die Ungewissheit des Mannwerdens. Er konnte also nicht wissen, dass man auch ohne dieses reif werden kann, in einem unerwarteten Moment durch die Revolution der Persönlichkeit. 

War Ikaros unglücklich? Glück ist in seiner Allgemeinheit ein Lebensgefühl des Augenblicks, ein Gefühl der Vollständigkeit, entstanden aus einer besonderen Verbindung der Sinne und des Geistes. Als er sich in die Richtung der Sonne erhob, war Ikaros ganz bestimmt glücklich. Seine Muskeln ließen seinen jungen Körper gehorsam fliegen, in seinem Geist blitzte die Genugtuung auf, die Bindungen des Labyrinths abgeworfen zu haben. Da war er also glücklich. 

War er glücklich, als er bereits nach unten stürzte, mitten in seinem Untergang? Wen die Götter erheben, sodann mit gnadenloser Erbarmungslosigkeit abstoßen, der ist bestimmt unglücklich, denn er hatte die Vollkommenheit nicht aus sich heraus entfaltet, sondern sie wurde ihm auf die Schultern gelegt, er wurde damit ergänzt. Ikaros zog die Vollkommenheit durch seine Tat selbst an sich heran: Er transzendierte sich selbst. Er wurde mehr als er war, er überschritt die allen gegebenen Schranken der Angst, des Vorurteils, der Bequemlichkeit. Unglücklich konnte er auch in seinem Untergang nicht sein. 

Denn selbst in seinem Untergang kann der nicht unglücklich sein, der auch nur für einen Augenblick die Genugtuung der schöpferischen, reinen Tat gefunden hat. Es gibt welche, die sich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereiten, doch wird ihr Wunsch danach später von der dumpfen Gleichgültigkeit ausgemerzt. Es gibt auch solche, die unvermittelt aus dem eigenen Schatten hervorspringen. Ikaros nahm selbst in seinem Untergang noch seine Genugtuung mit, er konnte nicht unglücklich sein. Glücklich auch nicht: Die Vernichtung kann kein Glück sein. 

Der Mensch ist nicht nur glücklich oder unglücklich, für ihn gibt es nicht nur diese beiden, einander ausschließenden Möglichkeiten. Mit seinen alltäglichen Taten kann er mal die eine, mal die andere stärken. Mit seinem Handeln erschafft er sich seine Vollkommenheit neu oder entleert und beraubt sich selbst. Aber wenn er auch nur einmal sich selbst transzendiert hat, bleibt in ihm das belebende, glückliche Gefühl der Genugtuung. Im unglücklichen Sturz des Ikaros blinkte Glück auf. 

Es ist also unmöglich, Ikaros mit dem allgemeinsten Kategorienpaar des Lebensgefühls zu charakterisieren; die Eigentümlichkeit seiner Lage ist die Erschaffung eines neuen Lebensgefühls, die Verneinung des alten. Der Grundzug des neuen: der befreite Jubel der Schöpfung, worin nichts mehr an die saure Stickigkeit der Gleichgültigkeit erinnert, an die dumpfe Langweiligkeit der Gewöhnung. Daidalos konnte das nicht fühlen: Das gehörte Ikaros allein. 

Wenn Ikaros nicht in die Tiefe gestürzt wäre, hätten die Menschen es nie gelernt, anders zu fühlen. Das Handeln bestimmt das Lebensgefühl bzw. das Fehlen des Handelns oder dessen halbfertige Durchführung. Die Tat des Ikaros hat den Jubel aus seiner Falle befreit. Freilich nur für jene, die ihm nachgingen, die ihm folgten, die zur Sonne hin gestartet sind. 

König Minos sperrte sogar die Dunkelheit in das Labyrinth, doch damit zog er nur die letzte Konsequenz daraus, was er woanders erfahren durfte, dort, wo man eifrig bemüht war, das Licht einzuzäunen, folgerichtig die Dummheit und Voreingenommenheit zu vermehren. Er sah, dass die reinen, flachen Ebenen mit unverständlichen Mauern barrikadiert wurden. Oder hatten die Wände der Vorurteile doch ihren Sinn gehabt? 

Nur so viel, damit alle im Licht die Schatten erblicken, selbst Schatten werfen und sie alle mit dem Gefühl der Minderwertigkeit durchtränkt werden, der trägen Bitterkeit, die Rückgrate bricht und der Übelkeit ob der Sinnlosigkeit des Seins. Minos hat nur die negative Probe gemacht, nichts Neues erschaffen, sondern nur die negative Form des Alten. 

Ikaros ist aus den Labyrinthen ausgebrochen und hat so ein grundlegendes Problem der philosophischen Anthropologie gelöst: Im Verhältnis zum Lebensgefühl bestimmte er die Tat als primär und anstelle der raffinierten Adjektive des Verzichts hat er das Handeln an die Herrschaft gelangen lassen. 

Das ist die Legende des Ikaros. 

Franz Sz. Horváth studierte Philosophie und Geschichte an der Universität Heidelberg; 2006 Promotion ebenda mit einer Arbeit über die ungarische Minderheit in Rumänien; 2006–2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Southampton, danach Stipendiat des Leo Baeck Fellowship Programms. 2010–2012: Referendariat für das Lehramt an Gymnasien, seit 2012 Studienrat bzw. seit 2017 Oberstudienrat an der Immanuel-Kant-Schule in Rüsselsheim. Forschungsschwerpunkte: osteuropäische Minderheitenfrage, Antisemitismusforschung, Ideologiegeschichte, jüdisch-nichtjüdische Beziehungen, Holocaust, Lokalgeschichte 

  1. Rüdiger Bubner: Antike Themen und ihre moderne Verwandlung. Frankfurt 1992, S. 14. ↩︎
  2. Bubner: Themen, S. 16.  ↩︎
  3. Christoph Jamme: „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt 1999, S. 78. ↩︎
  4. Jamme: Grenzen, S. 81.  ↩︎
  5. Anton Grabner-Haider: Die Welt der Mythen. In: Helma Marx (Hg.): Das Buch der Mythen aller Zeiten aller Völker. Graz u.a. 1999, S. 696–731, hier insbes. S. 718–725; Jamme: Grenzen, S. 81–86. ↩︎
  6. Zitat aus Jamme: Grenzen, S. 85; vgl. Grabner-Haider: Mythen, S. 724. ↩︎
  7. Ágnes Heller: Bicikliző majom [Der Affe auf dem Fahrrad]. Budapest 1999, S. 237. ↩︎
  8. Zu Nicolae Ceaușescus Innenpolitik vgl. Christof Kunze: Nicolae Ceauşescu. Eine Biographie. Berlin 2009; zur Erdrosselung des Kulturlebens der Minderheiten siehe Othmar Kolar: Rumänien und seine Minderheiten. Köln u.a. 1997, S. 344–361. ↩︎
  9. Zu Imre Tóth vgl. Andreas Becker, Christian Reiß (Hgg.): Imre Tóth (1921–2010) und die Institutionalisierung der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Regensburg. Regensburg 2021. ↩︎
  10. Ernő Gáll: Pandora visszatérése. A reményről és a méltóságról [Die Rückkehr der Pandora. Über die Hoffnung und die Würde]. Bukarest 1979. ↩︎
  11. Gálls wechselvolle Vita, seine Ethik der Würde und Verantwortung sowie seine Auseinandersetzung mit dem Holocaust wird aufgearbeitet in: Franz Sz. Horváth: Kommunist – Jude – Ungar? Leben und Werk des heimatlosen Philosophen Ernő Gáll. Wiesbaden 2023. ↩︎
  12. Zu Sütő und seinem Essay vgl. Horváth: Kommunist, S. 126–128. ↩︎
  13. Horváth: Kommunist, S. 127. ↩︎
  14. Für eine Analyse von Sütős Werk vgl. Zoltán Bertha: Sütő András [András Sütő]. Pozsony 1998. ↩︎
  15.  Sándor Balázs: Emlékeim Gyuriról [Meine Erinnerungen an Gyuri]. In: Péter Egyed (Hg.): Bretter György filozófiája. Értelmezések, dokumentumok, visszaemlékezések [Die Philosophie György Bretters. Deutungen, Dokumente, Erinnerungen]. Kolozsvár 2007, S. 225–234, hier S. 227. ↩︎
  16. Die biographischen Angaben sind einem kurzen Lebenslauf Bretters entnommen, abgedruckt in Egyed (Hg.): Bretter, S. 295. ↩︎
  17. Im weiter unten abgedruckten Essay Die Legende des Ikaros heißt es: „Warum eilte Ikaros in die Sonne? Weil er in ihr die unbefleckte Reinheit spürte …“ ↩︎
  18. István Angi: Torzóba kényszerült főművek utóéletei [Die Nachleben von Hauptwerken, die Torsi geblieben sind]. In: Egyed (Hg.): Bretter, S. 161–224. ↩︎
  19. Eine Auswahl aus Bretters Texten bietet etwa der posthum erschienene Sammelband György Bretter: Itt és mást. Válogatott írások [Hier und etwas Anderes. Ausgewählte Schriften]. Bukarest 1979. ↩︎
  20. Egyed (Hg.): Bretter, S. 45. ↩︎
  21. György Bretter: Vágyak, emberek, Istenek. Tanulmányok, esszék [Sehnsüchte, Menschen, Götter. Aufsätze, Essays]. Bukarest 1970; ders.: Párbeszéd a jelennel. Esszék, tanulmányok [Dialog mit der Gegenwart. Essays, Aufsätze]. Bukarest 1973.  ↩︎
  22. György Bretter: Milyen is az angol esszé? [Wie sieht noch einmal ein englischer Essay aus?] In ders.: Vágyak, S. 264–270, hier v.a. 264–266. ↩︎
  23. Im Original: Esszék és életek. In ders.: Párbeszéd, S. 274–296. ↩︎
  24. Bretter: Esszék, S. 278f. ↩︎
  25. Egyed (Hg.): Bretter, S. 295. ↩︎
  26. Bretter: Elöljáróban [Zum Geleit]. In ders.: Párbeszéd, S. 7. ↩︎
  27. Bretter: Szükségletünk: a filozófia [Unser Bedürfnis: die Philosophie]. In: ebenda., S. 8.  ↩︎
  28. Ebenda, S. 11. ↩︎
  29. Ebenda, S. 13. ↩︎
  30. Egyed (Hg.): Bretter, S. 59. ↩︎
  31. György Bretter: Valamikor Silenus őrizte a forrásokat [Silen bewachte einst die Quellen] In: ders.: Itt, S. 271. ↩︎
  32. Ders.: Ikarosz legendája [Die Legende des Ikaros]. In: ders.: Itt, 43.   ↩︎
  33. Ebenda, S. 43. ↩︎
  34. Ebenda, S. 40. ↩︎
  35. Ebenda, S. 47 (Hervorhebung im Original). ↩︎
  36. Die Übersetzung aus dem Ungarischen erfolgt nach: Ikaros legendája. In: György Bretter: Itt és mást. Válogatott írások [Hier und etwas Anderes]. Bukarest 1979, S. 39–47. Übersetzt von Franz Sz. Horváth. Alle Hervorhebungen folgen dem ungarischen Original. ↩︎
Teilen: