Wolfgang Höpken: Wissenschaft – Politik – Biografie. Die deutsche Südosteuropaforschung und ihre Akteure am Beispiel von Franz Ronneberger (1930er bis 1990er Jahre). Südosteuropäische Arbeiten 163. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020. 889 S.
Die von internationalen kritischen Historikerinnen und Historikern seit einem Vierteljahrhundert vorangetriebenen Bemühungen, die Verstrickungen der deutschen Geisteswissenschaften in Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus und deren Nachwirkungen aufzudecken und Licht in die belastete Vergangenheit der deutschen geschichts- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem östlichen Europa zu bringen, zielten vor allem auf die akademische Befassung mit den Böhmischen Ländern, Polen und Russland in den Jahren 1933–1945 ab.1 Die monumentale Biografie Hermann Aubins von Eduard Mühle hat in dieser Beziehung in der deutschen Historiografie Standards gesetzt.2 Ungeachtet einiger verdienstvoller Ansätze blieb der deutsche Blick nach Südosteuropa während des 20. Jahrhundert vergleichsweise unterbelichtet. Lag es an der proportional geringeren Zahl an entsprechenden Lehrstühlen und außeruniversitären Einrichtungen? Oder an Abhängigkeiten, den akademischen Lehrer-Schüler-Beziehungen in einem verhältnismäßig engen wissenschaftlichen Feld?
Der Leipziger Emeritus Wolfgang Höpken hat ein Werk zu Leben, Werk und Umfeld des Südosteuropaforschers Franz Ronneberger (1913–1999) vorgelegt, das es nicht nur im Umfang mit der genannten Aubin-Biografie Eduard Mühles aufnehmen kann, wenngleich beide untersuchten Protagonisten unterschiedlichen Generationen angehörten und deshalb auch ihre Ausgangslage eine andere war. Als im Januar 1933 Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt wurde, war Ronneberger noch nicht ganz zwanzig Jahre alt und befand sich in der wissenschaftlichen Ausbildung, während der eine Generation ältere Hermann Aubin (1885–1969) bereits ein etablierter und gut vernetzter Universitätsprofessor war. Nur wenige Jahre jünger als Ronneberger war der in München gelandete Südosteuropa-Historiker Fritz Valjavec (1909–1960), der für Ronnebergers Sozialisation eine nicht unwesentliche Rolle spielen sollte.
Aubin stammte aus dem nordböhmischen Reichenberg (tsch. Liberec), Valjavec aus der der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie. Im Unterschied dazu wurde dem in Thüringen aufgewachsenen Franz Ronneberger kein familiärer Bezug zum östlichen Europa in die Wiege gelegt. Er verlor als Kleinkind seinen als Soldat im Ersten Weltkrieg gefallenen Vater, einen mittelständischen handwerklichen Unternehmer. Franz absolvierte im heimatlichen Thüringen seine Schulausbildung und kam nach dem Abitur (1932) in den Genuss einer Förderung seitens der Studienstiftung des Deutschen Volkes, dank derer er an der Universität Kiel ein juristisches Studium aufnahm. Frühzeitig begeisterte er sich für den Nationalsozialismus, schloss sich noch vor der „Machtergreifung“ dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) an, entwickelte in dessen Milieu ein Interesse für den Südosten Europas und wechselte 1934 an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) nach München, die sich zu jener Zeit zu einem Mittelpunkt der deutschen Südosteuropaforschung zu etablieren begann. Es begann eine für völkisch eingestellte Studierende jener Jahre nicht untypische Doppelkarriere: Ronneberger wurde zum einen wissenschaftlicher Mitarbeiter am Südost-Institut in München, wo er mit Fritz Valjavec und seinem Umfeld zusammentraf. An der Münchner Universität leitete Ronneberger das „Außenamt“ der NS-Studentenschaft. Mit Valjavec versuchte er, auf deutsche Minderheiten in Ungarn und Rumänien ideologisch einzuwirken. Daneben evaluierten beide die Presse in Südosteuropa. Im folgenden Jahr avancierte Ronneberger zum Chef der „Außenstelle Südost“ der Reichsstudentenführung. Mit diesem Aufstieg ging sein formeller Eintritt in die NSDAP einher. Als Leiter der „Deutschen Akademischen Auslandsstelle“ in München überwachte er ausländische Studierende an der LMU. Wissenschaftlich lag er auf der Linie der NSDAP; auf das erste juristische Staatsexamen (1935) folgte die Promotion (1938).
1939 wechselte er nach Wien zu „Reichsstatthalter“ Arthur Seyss-Inquart, mit dessen Hilfe er das „Büro Ronneberger“ etablierte, eine Dienststelle zur Auskundschaftung der ausländischen Presse – ab 1940 unter der Regie des Auswärtigen Amtes. Ronnebergers Spionage-Tätigkeit, die mit zahlreichen Reisen verbunden war, unterstützte ein Netzwerk von Agenten und Helfern. Seine Expertisen dienten als Entscheidungshilfen für NS-Dienststellen und -Parteiorganisationen. Ab dem Frühjahr 1944 fusionierte das „Büro Ronneberger“ mit der Publikationsstelle Wien der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SOFG), die von Wilfried Krallert geleitet wurde. Seit 1940 war Ronneberger Lehrbeauftragter an der Hochschule für Welthandel in Wien und habilitierte sich dort 1944 im Fach „Staatswissenschaften“. Er war seit 1942 Mitglied der SS und arbeitete geheimdienstlich für das Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Eine für Januar 1945 geplante Dienstortveränderung nach Berlin kam nicht mehr zustande, stattdessen landete er in der Endphase des Zweiten Weltkriegs im steirischen Benediktinerstift St. Lambrecht, das die Nationalsozialisten beschlagnahmt hatten und in dem nun die Unterlagen der Publikationsstelle Wien deponiert werden sollten. In der Steiermark verhafteten britische Soldaten Ronneberger und internierten ihn anschließend im norddeutschen Gefangenenlager Sandbostel.
Besonders eindrucksvoll dokumentiert Höpken die im Endergebnis erfolgreichen Entlastungsstrategien Ronnebergers in dessen Entnazifizierungsprozess im Jahr 1947. Mit einer gewissen Unverfrorenheit und dank tatkräftiger Unterstützung aus seinem Netzwerk gelang es ihm, seine NSDAP-Mitgliedschaft zu bagatellisieren und sich als redlicher Wissenschaftler ohne größere politische Implikationen zu inszenieren. Lediglich in Österreich musste er auf seinen Lehrauftrag in Wien verzichten, der nach 1945 nicht erneuert wurde.
Damit war Ronnebergers Karriere allerdings nicht beendet – im Gegenteil: Er errang rasch eine einflussreiche Position bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), als Dozent für Staatsrecht und Soziologie an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Bochum. Außerdem dockte er beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft in Essen, beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und schließlich bei der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) in München an. Seine zahlreichen Veröffentlichungen ermöglichten ihm 1960 eine zweite, diesmal kumulative Habilitation und damit den Eintritt in die universitäre Wissenschaft. Von der Pädagogischen Hochschule Bielefeld führte ihn sein Weg an die Universität Erlangen-Nürnberg, zuletzt an die Katholische Universität Eichstätt. Auch nach 1945 war Ronneberger bestens vernetzt und als Südosteuropa-Experte ein gefragter Experte, Autor und Referent.
Höpken zeichnet nach, wie sich Ronnebergers Denken vom nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis als einer dem Staat und der Ideologie verpflichteten Disziplin hin zu einem von internationalen Diskursen geprägten Denkschema im Kontext des Kalten Kriegs formierte. Letztlich überwogen dabei strukturell die Kontinuitäten gegenüber Selbstkritik oder Wandel. Ronneberger ist ein Paradebeispiel dafür, wie rasch in der Nachkriegszeit NS-Haltungen an einen neuen gesellschaftspolitischen Kontext adaptiert werden konnten.
Wolfgang Höpkens umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung beruht auf der Auswertung global verteilter Archivbestände und gedruckter Quellen, daneben der Diskursanalyse von Ronnebergers zahlreichen Veröffentlichungen, die wertvolle Einblicke in sein Denken, aber auch in seine Strategien der Selbstlegitimation bieten. Diese Erkenntnisse verknüpft der Autor mit den Erträgen der existierenden Fachliteratur sowie einer Vielzahl an publizistischen Schriften aus dem Umfeld der deutschen Südostforschung von den 1930er-Jahren bis in die Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs. Die Lektüre von Höpkens Werk illustriert auf bedrückende Weise, welche Kontinuitäten in diesem Bereich anzutreffen waren und wie vor 1945 entstandene Netzwerke auch im Kontext der Nachkriegsentwicklung weiterhin trugen. Das gelingt Höpken an seinem Beispiel der Nachweis in besonders überzeugender Weise. Das fast 900 Seiten starke Werk ist das Ergebnis einer nicht zu unterschätzenden Fleißarbeit. Das Ergebnis ist keine leichte Kost, aber ein wissenschaftlich sehr bedeutsamer Beitrag zu einer noch immer ausstehenden gesamtgesellschaftlichen Reflexion unseres Umgangs mit dem östlichen Europa. Biografien von Schlüsselpersönlichkeiten wie Fritz Valjavec stehen hingegen noch immer aus.
Ein detailliertes Personen- und Ortsregister ermöglicht den raschen Zugriff auf Einzelheiten. In der polnischen Sprache würde man das Werk zweifelsohne als „kopalnia wiedzi“, als „Steinbruch des Wissens“, charakterisieren, ein positives Kompliment: Für alle Kolleginnen und Kollegen, die sich mit der Geschichte einzelner Personen oder Institutionen aus dem Umfeld der deutschsprachigen Südosteuropaforschung beschäftigen, ist fortan der Griff zu Höpkens Ronneberger-Biografie unumgänglich.
Tobias Weger
- Immer noch maßgeblich das Werk von Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. London 1988. ↩︎
- Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005; ders. (Hg.): Briefe des Ostforschers Hermann Aubin aus den Jahren 1910–1968. Marburg 2008. ↩︎