Hélène Camarade, Luba Jurgenson, Xavier Galmiche: Samizdat

Hélène Camarade, Xavier Galmiche, Luba Jurgenson (Hgg.): Samizdat. Publications clandestines et autoédition en Europe centrale et orientale (années 1950–1990) [Samisdat. Geheim- und Eigenveröffentlichungen in Zentral- und Osteuropa (1950er- bis 1990er-Jahre)]. Paris: nouveau monde 2023. 320 S., 23 Abbildungen.

„Samizdat“ ist ein russisches Akronym, das „selbst Verlegtes“ bezeichnet und damit all jene Publikationsformen, die in den Staaten des ehemaligen Ostblocks zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Wende von 1989/90 jenseits der offiziellen Veröffentlichungspraxis und Zensur gehandhabt worden sind. Dem Phänomen der nicht-konformen Parallelkulturen sowie ihren literarischen, publizistischen und künstlerischen Ausdrucksformen widmet sich dieses handliche Werk in französischer Sprache.

Im Herausgebertrio vereinen sich Fach- und Regionalkompetenzen sowie praktische und theoretische Herangehensweisen: Die Germanistin Hélene Camarade von der Université Bordeaux Montaigne forscht aktuell am Centre Marc Bloch in Berlin und untersucht bereits seit längerer Zeit Dissidenz und Opposition in der DDR. Der Bohemist Xavier Galmiche lehrt als Literaturwissenschaftler an der Sorbonne in Paris, leitet das dortige Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes (CIRCE) [Interdisziplinäres Zentrum für zentraleuropäische Forschungen], übersetzt aber auch selbst (vorwiegend tschechische) Literatur. Seine Pariser Kollegin Luba Jurgenson hat einen Lehrstuhl für russische Literatur inne, ist aber auch selbst als Schriftstellerin zeithistorisch inspirierter Belletristik hervorgetreten.

In ihrer konzisen Einleitung (S. 9–27) verweisen die drei Herausgeber/innen auf die dynamischen Entwicklungen des Samisdat in den einzelnen vom sowjetischen Machtapparat kontrollierten Gesellschaften seit etwa Stalins Tod, zugleich aber auch auf die „relative Geografie“ des „Ostblocks“, in dessen einzelnen Staaten unterschiedliche Chronologien bestimmend waren, die jeweilige kurze Liberalisierungsphasen beinhaltet hätten – etwa 1968 in der Tschechoslowakei, 1980/81 in Polen und während der Perestroika in der UdSSR. Bei allen Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit sei es beim Samisdat stets um die Frage der freien Meinungsäußerung in Systemen gegangen, in denen die Freiheit des Ausdrucks staatlicherseits eingeschränkt gewesen sei. Insofern ergebe sich auch ein funktionaler Zusammenhang mit dem Wesen und der Praxis der staatlichen Zensur. In terminologischer Hinsicht habe sich der vom Russischen abgeleitete „Samisdat“ in orthografischen Varianten durchgesetzt, wobei es in einzelnen Sprachen auch Alternativbegriffe gegeben habe. Sprachlich verwandt sind auch die Ausdrücke „Tamizdat“ – gemeint ist die Exilpublizistik außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs – und der „Magnetizdat“, die Aufzeichnung unzensierter Texte und Musik auf Tonbändern.

Entsprechend der französischen enzyklopädischen Wissenschaftstradition werden Einzelaspekte in knappen, aber fachlich fundierten Lemmata ausgewiesener Expert/innen aus mehreren Ländern behandelt. Sie kondensieren darin ihre bisherigen Forschungsergebnisse, setzen aber nur sehr sparsam Fußnoten und verweisen auf weiterführende Literatur zur Vertiefung der Spezialbereiche. Informationskästchen zu einigen der Texte ermöglichen das Lokalisieren von Primärquellen in einschlägigen Sammlungen zum Samisdat. Einige Beiträge stammen von den Herausgeber/innen selbst, für die weiteren haben sie 31 Fachkolleg/innen eingeworben.

Der Hauptteil des Buches gliedert sich in zwei Hauptbereiche: Der erste folgt einem geografisch-politischen Ansatz, indem die Grenzen und Möglichkeit des Samisdat innerhalb der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten sondiert werden. Die Rezipient/innen des Buches können sich auf diese Weise über die Menschenrechts-Zeitschriften in der Sowjetunion (Cécile Vaissié), über publizierte Gulag-Zeugnisse (Luba Jurgenson), die Bedeutung der ukrainischen Dissidenz (Galia Ackerman), den belorussischen Samisdat (Dzianis Kandakou) sowie über regimekritische Publizistik in Aserbaidschan (Yalchin Mammadov), Armenien (Claire Mouradian), Georgien (Atinati Mamatsashivili) und den baltischen Sowjetrepubliken (Antoine Chalvin und Eric Le Bourhis) informieren. Gerade das Beispiel Armenien illustriert das Zusammenwirken zwischen dem Samisdat und dem von der globalen armenischen Emigration betreuten Tamisdat bei der Verhandlung der nationalen Frage Armeniens mit Nachwirkungen bis in die Gegenwart.

Wie stand es um die Publikationsmöglichkeiten in den Warschauer-Pakt-Staaten bis 1989/90? Dieser Frage geht das Buch am Beispiel Polens (Agnieszka Grudzińska), der Tschechoslowakei (Jan Rubel), der DDR zwischen 1986 und 1989 (Sylvie Le Grand), in Ungarn (András Kányádi), Jugoslawien (Daniel Baric) und Bulgarien (Jakub Mikulecký) nach. Hier fehlt nicht nur Albanien, sondern vor allem Rumänien, dessen quantitativ und qualitativ relevante Minderheitenliteraturen, vor allem in ungarischer und deutscher Sprache, einen eigenen Beitrag wert gewesen wären, zumal diese Literaturen nicht nur im Fokus des rumänischen Geheimdienstes Securitate standen, sondern auch aus dem Ausland „beobachtet“ wurden.

Auf die geografischen Zugänge lassen die Herausgeber/innen im zweiten Hauptteil thematische Querschnitte und soziale Sonderaspekte folgen. Da geht es strukturell um den Tamizdat im Allgemeinen (Yasha Klots), der anhand des Pariser erfolgreichen polnischen Exilverlags „Kultura“ (Maria Delaperrière) eine Exemplifizierung erfährt. Mit dem Magnetizdat in Ostmitteleuropa (Mateusz Chmurski) und in der UdSSR (Marco Biasioli) wird die technische Ergänzung des gedruckten Worts in den 1980er-Jahren thematisiert. Ein Unterkapitel versammelt Reflexionen zu künstlerischen Aspekten. Nach einer Überblicksdarstellung (Xavier Galmiche) werden beispielhaft die jüdische Künstlergruppe „Alef“ aus Leningrad (Boris Czerny), die tschechischen Surrealisten (Jaromír Typlt), der literarische und künstlerische Samisdat in der DDR der 1980er-Jahre (Carola Hähnel-Mesnard) sowie Formen der Aktionskunst in Zentraleuropa (Andrea Bátorová) vorgestellt.

Anschließend geht es um den Samisdat als Ausdrucksform exkludierter gesellschaftlicher Gemeinschaften, aber auch von Subkulturen. Christliche Veröffentlichungen der 1960er- und 1980er-Jahre in der UdSSR (Kathy Rousselet), der christliche Samisdat in der Tschechoslowakei als philosophische Diskursplattform (Petr Kužel) kommen hier ebenso zur Sprache wie die Erörterung ökologischer Probleme in Polen seit Mitte der 1970er-Jahre (Jan Olaszek), musikalische Fanorgane in der Tschechoslowakei (Miroslav Michela), die Genese einer Homosexuellen-Untergrundpresse in Polen (Mathieu Lericq) sowie feministische und lesbische Zeitschriften in der DDR (Hélène Camarade). Den Abschluss bilden zwei Porträts wichtiger Quellensammlungen – der der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (Susanne Schattenberg und Manuela Putz) sowie der digitalen Sammlungen an der University of Toronto (Ann Komaromi), ergänzt um einen Einschub von Claudia Pieralli zu den Samisdat-Recherchemöglichkeiten an der Universität Florenz.

Eine umfangreiche Bibliografie, Transliterationshilfen und ein Sachregister ermöglichen ergänzende Recherchen sowie einen raschen Zugang zu den präsentierten Inhalten. Bildnachweise, Biogramme der Autor/innen und – sehr verdienstvoll! – der Übersetzer/innen runden den Informationsgehalt ab.

Damit ist ein gut lesbares und übersichtliches Sammelwerk entstanden, das einen fachlich zuverlässigen und durch aktive Forschungen der Autor/innen abgesicherten Einstieg in die Thematik des Samisdat ermöglicht. An einigen Stellen erscheinen die Beiträge allerdings etwas sehr idealistisch, wenn etwa der Samisdat kollektiv als überwiegend „westliches“ Phänomen beschrieben wird. Ob dies tatsächlich für alle regimefernen kirchlichen Veröffentlichungen in der UdSSR oder für alle Verhandlungen nationaler Fragen bei Ukrainern oder Armeniern zutrifft, sei einmal dahingestellt. Wir blicken heute ehrfürchtig auf das bürgerrechtliche Engagement von Persönlichkeiten wie Václav Havel, Adam Michnik, Tadeusz Mazowiecki und vielen anderen zurück, das zurecht als eine Grundlage für die demokratische Entwicklung im östlichen Europa nach 1989 angesehen wird. Dennoch besteht bei der Historiografie des Samisdat eine Falle, in die auch einige der Beiträger/innen der vorliegenden Bandes getappt sind: Es sollte nämlich nicht übersehen werden, dass die antikommunistische Opposition zwischen 1945 und 1990 sich nicht nur in Schriften liberal-demokratischer Akteure artikulierte. Im regimekritischen Untergrund publizierten auch nationalistische und nationalkonservative Autorinnen und Autoren, die nach der Demokratisierung ihrer Länder zu Wegbereitern der neuen, zum Teil auch extremen Rechten wurden. Der polnische Politiker Janusz Korwin-Mikke (geb. 1942) etwa, ein langjähriger Rechtsaußen-Abgeordneter im Sejm und im Europäischen Parlament, war während der Zeit des Kriegsrechts in Polen in den 1980er-Jahren wegen illegaler Publikationstätigkeit inhaftiert worden; in seinen Texten hatte er sowohl das Jaruzelski-Regime als auch die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarność scharf kritisiert. In Rumänien zählten zur publizistisch tätigen Opposition auch Parteigänger der so genannten Legionärsbewegung der 1930er- und 1940er-Jahre. Die Liste ließe sich in allen betroffenen Ländern fortsetzen. Nur wenn man diese Segmente in die Betrachtung des Samisdat mit einbezieht, können aktuelle politische Entwicklungen im östlichen Europa in ihrer zeithistorischen Entwicklung verständlich werden.

Tobias Weger

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