Was geht digital? Kulturgüterrettung im Angesicht des Krieges gegen die Ukraine

Gudrun Wirtz, Bayerische Staatsbibliothek München

Dr. Gudrun Wirtz ist seit 2006 Leiterin der Osteuropaabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB). Nach dem Studium der Slawischen und Romanischen Philologie in Freiburg, Bonn und Zagreb war sie an den Universitäten Bonn und Bamberg tätig und wurde 1996 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität promoviert. 2000 schloss sie das Bibliotheksreferendariat ab und arbeitet seitdem an der BSB. Dort ist sie u.a. verantwortlich für den DFG-geförderten Fachinformationsdienst Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Darüber hinaus ist sie ist Mitglied in zahlreichen bibliothekarischen und wissenschaftlichen Gremien.

Einführung

Angesichts eines brutalen Angriffskrieges, in dem Kriegsverbrechen wie Folter, Verschleppung, Vergewaltigung, Angriffe auf kritische Infrastruktur wie Energie- und Wasserversorgung, Ernährungswirtschaft und medizinische Versorgung an der Tagesordnung sind, Hunderttausende um ihr Überleben kämpfen und Millionen geflohen sind, mag es manch einem nebensächlich erscheinen, sich mit digitalen Möglichkeiten der Kulturgüterrettung zu beschäftigen. Doch auch Kulturgüter sind kritische Infrastrukturen demokratischer Staaten, also als Grundlage für das Funktionieren der Gesellschaft.1 Ihre gezielte Zerstörung gilt nach der Haager Konvention als Kriegsverbrechen. Entscheidender aber ist etwas anderes: Kulturgutzerstörung ist Teil genozidaler Kriege. Sie zielt darauf ab, das kulturelle Erbe einer Gesellschaft zu vernichten und damit ihre Identität. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine geschieht dies auf vielfältige Art und Weise: Zerstörung historischer Stätten und Gebäude, Plünderung und Diebstahl, Verbrennung von Büchern und Zerstörung von Schrifttum, Zerstörung von Kunstwerken sowie Verbot von traditionellen Bräuchen und Praktiken, darunter die ukrainische Sprache. Kulturgutzerstörung ist in diesem Krieg kein Kollateralschaden, sondern vom ersten Tag an strategisches Ziel, verbal lange vorbereitet und begleitet von Reden über die Nicht-Existenz einer eigenständigen ukrainischen Kultur, Geschichte und Sprache. Jede Aktivität also, die sich um den Erhalt von ukrainischem Kulturgut kümmert, richtet sich gegen den Genozid. Was aber haben wir unter diesen Umständen als ukrainisches Kulturgut zu betrachten? Ist es das, was auf nationalen und internationalen Listen des Kulturerbes Aufnahme gefunden hat? Reichen die bekannten Definitionen aus? Welche Methoden der Bewahrung sind praktikabel und welche Rolle spielt dabei Digitalisierung?

Materielles, immaterielles und digitales Kulturgut

Kulturerbe und Kulturgut sind offene Begriffe. „Die Wertschätzung, aber auch das Vergessen und das Wiederentdecken von Kulturerbe ist unter anderem vom gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs abhängig.“2 Üblicherweise unterscheiden wir zwischen materiellem und immateriellem Kulturgut, d. h. Kulturgut mit einer physischen Existenz und Kulturgut, das sich im flüchtigen Moment manifestiert. Zum materiellen Kulturgut gehören Bau-, Kunst- oder geschichtliche Denkmäler religiöser oder weltlicher Art, archäologische Stätten, Gebäudegruppen, die als Ganzes von historischem oder künstlerischem Wert sind, Kunstwerke, Manuskripte, Bücher und andere Gegenstände von künstlerischem, historischem oder archäologischem Interesse. Außerdem zählen wissenschaftliche Sammlungen und bedeutende Sammlungen von Büchern, Archivalien oder Reproduktionen, sodann Baulichkeiten, die der Erhaltung oder Ausstellung des geschützten beweglichen Kulturgutes dienen (Museen, größere Bibliotheken, Archive, Bergungsorte), Denkmalorte, also Orte, die in beträchtlichem Umfang Kulturgut im obigen Sinne enthalten, dazu.  

Immaterielles und digitales Kulturgut

Unter immateriellen Kulturgut versteht man kulturelle Ausdrucksformen, soziale Praktiken, handwerkliche Techniken sowie Wissen und Fertigkeiten, die in Gemeinschaften tradiert werden. Kulturgut hat sowohl eine lokale, eine regionale als auch eine nationale bzw. internationale Dimension, entsprechend gibt es verschiedene Verzeichnisse. Das deutsche Verzeichnis immateriellen Kulturguts umfasst 144 Einträge, darunter beispielsweise Flechthecken, Streuobstanbau, Kneippen, Orgelbau und Orgelmusik. Sieben davon haben es auf die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit geschafft, einige davon sind regionale, grenzüberschreitende Traditionen wie etwa der Blaudruck3 oder die Falknerei.4

Digitales Kulturgut wird üblicherweise dem immateriellen Kulturgut zugerechnet. Dabei hat man in erster Linie digitale Bildkunst, interaktive Installationen oder audiovisuelle Materialien im Blick, wie sie immer häufiger auch in Museen Eingang finden, mitunter aber zum Beispiel auch Computerspiele.5 Allerdings ist die Kategorisierung digitalen Kulturguts als immateriell aus mehreren Gründen nicht adäquat: Digitale Kultur ist faktisch nicht immateriell, sie hat eine physische Existenz, sei es auf Festplatten, anderen Speichermedien oder in der Cloud. Diese physische Existenz kann durch Bomben, durch Viren oder auch durch Stromabschaltung vernichtet werden. Die landläufige Annahme, alles, was im Internet sei, sei irgendwie automatisch sicher, ist leider absolut falsch. Eine Besonderheit, die im Kriegskontext eine große Rolle spielt, ist zudem, dass einzig digitales Kulturgut – zumindest theoretisch – wirklich gerettet werden kann, denn Daten können „eins zu eins“ kopiert werden. In der Praxis ist dies freilich komplizierter, da Daten auch von Soft- und Hardware abhängen. Dennoch liegt hier, wenn es um Rettung geht, ein wesentlicher Vorteil gegenüber materiellem Kulturgut, von dem zweidimensionale oder im besten Fall dreidimensionale Abbilder6 oder Kopien gefertigt werden können, oder immateriellem Kulturgut, von dem eine einmalige Ausführung aufgezeichnet werden kann. Dass digitales Kulturgut nicht nur vor Ort, sondern auch aus der Ferne ganz ohne Zutun des Datenbesitzers kopiert werden kann, ist gerade im Notfall ein weiterer wesentlicher Unterschied zu materiellem und immateriellem Kulturgut. Allerdings gilt es hier im Regelfall rechtliche Beschränkungen zu beachten: Genauso wie Bücher sind Webseiten urheberrechtlich geschützt. Das heißt, dass sie zumindest nach deutscher Rechtsauslegung nicht ohne explizite Zustimmung des Rechteinhabers kopiert werden dürfen. In den USA ist die Rechtsauslegung, nach der auch das Internet Archive operiert, hingegen dergestalt, dass eine fehlende Ablehnung als rechtliche Grundlage für Kopien ausreicht.

Wichtig ist in jedem Fall, dass digitale Kopien aller Arten von Kulturgut mit Metadaten versehen werden müssen, um referenzierbar und für Rekonstruktionen nutzbar zu sein. Im Übrigen dient Digitalisierung im Kriegszusammenhang nicht nur der Dokumentation und Rettung, sie kann auch Grundlage für Strafverfolgung sein, denn, wie oben erwähnt, ist Kulturgutzerstörung ein Kriegsverbrechen.

Digitale Projekte zur Kulturgutrettung

Es gibt unterschiedlichste Projekte, die sich nach dem 24. Februar 2022 mit digitalen Mitteln der Sicherung von Kulturgut widmen. Dabei geht es meist um materielles Kulturgut: Documenting Ukrainian Cultural Heritage beispielsweise ist eine fotografische Not-Dokumentation kulturell bedeutsamer Bauwerke, konzipiert und durchgeführt von Foto-Marburg in Kooperation mit Fotograf*innen vor Ort.7 Das von UNESCO und Blue Shield Dänemark gelaunchte Crowdsourcing-Projekt  Backup Ukraine nutzt eine im Gaming entstandene Technologie, mit der Privatpersonen vor Ort 3D-Scans von Monumenten, Gebäuden und Alltagsgegenständen herstellen, um diese ggf. für Rekonstruktionen wiederzuverwenden.8 Die Daten werden in einer Cloud gesichert. Der digitalen Sicherung ihres immateriellen Kulturguts hat sich die Ukraine seit ihrer Ratifizierung des entsprechenden UNESCO-Übereinkommens im Jahre 2008 verschrieben und zu diesem Zweck das Ukrainian Center for Cultural Research (UCCD) gegründet.9 Sehr viel breiter ist der Ansatz von Documenting Ukraine des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien10, das den Fokus auf den laufenden Krieg legt, aber dessen einzelne Projekte auch digitale Dokumentation von Kulturgut beinhalten. Beispiele für Digitalisierung ukrainischen Kulturguts gibt es selbstverständlich viele viele weitere, insbesondere in der Ukraine selbst auf lokaler, institutioneller und individueller Ebene. Es wird nach dem Krieg eine Herausforderung sein, all diese Initiativen zu verknüpfen, zusammenzuführen und auszuwerten. 

Digitalisierung dient nicht nur der unmittelbaren Kulturgutrettung und -dokumentation, sondern, eng damit zusammenhängend, auch dem Monitoring der Zerstörung. Es gibt dazu mehrere laufende Projekte, darunter in erster Linie eine Datenbank des ukrainischen Kulturministeriums, darauf aufbauend die von Blue Shield Deutschland, der UNESCO und der Smithsonian Institutions.11 Wohl noch nie war es möglich, so aktuell zu dokumentieren und zu verifizieren, nicht zuletzt durch die teils KI-gestützte Auswertung sozialer Medien.

SUCHO – Saving Ukrainian Cultural Heritage online

Die genannten Beispiele machen zweierlei deutlich: Erstens, eine verlässliche digitale Sicherung sollte auf Servern außerhalb der Ukraine passieren. Zweitens gehören Webseiten, die oft einzigartiges Kulturgut dokumentieren – wie etwa die des UCCD – zu den zu schützenden Kulturgütern. Dies führt zu der Frage, ob nicht in einem genozidalen Krieg ein möglichst weit gefasster Kulturgutbegriff sinnvoll ist, der jede Art von digitaler Repräsentation von Kultur, auch Alltagskultur umfasst. Da heutzutage jede Institution, ob Kindergarten, Tanzschule oder Restaurant, über eigene Webseiten verfügt, ist die Schlussfolgerung naheliegend, dass auch solche Seiten zu bewahren sind, da sie die Kultur und kulturelle Eigenständigkeit der Ukraine dokumentieren.

Webseitenarchivierung

Dies jedenfalls ist der Ansatz des internationalen Freiwilligenprojekts Saving Ukrainian Cultural Heritage online(SUCHO). Es konstituierte sich in den ersten Kriegstagen, als Anna E. Kijas, Leiterin der Musikbibliothek der Tufts University, Quinn Dombrowski, Technologie-Beauftrage der Abteilung Literatur Kultur und Sprachen der Bibliothek der Stanford University und Sebastian Majstorović, damals IT-Consultant für Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sich auf Twitter zusammenfanden und beschlossen, gemeinsam Daten zu retten. Vorbild war die Initiative Rogue Scientists Race to Save Climate Data from Trump, die 2016 Daten der Environmental Protection Agency rettete.12 Innerhalb weniger Tage setzten die drei ein System auf, das Slack als Kommunikationsplattform, Google Spreadsheets zur Datenverwaltung und eine Webseite für Öffentlichkeitsarbeit und Dokumentation benutzte. Mehrfach am Tag wurden Einführungen gegeben, es entstand rasch eine Reihe von Tutorials und Guides. Die Zahl der freiwilligen Helfer*innen wuchs dank Aufrufen in den sozialen Medien und fachlichen Netzwerken sowie Mund-zu-Mund-Propaganda täglich um Hunderte und erreichte rasch 1.300 und schließlich 1.500 Menschen aus 38 Ländern. Rund um die Uhr konnte also gearbeitet werden. Die Freiwilligen brachten unterschiedlichste Voraussetzungen mit: Sprachkenntnisse, Erfahrung mit Metadaten, Archivierung oder einfach nur den Drang, angesichts des Schreckens zu handeln – für jeden gab es reichlich zu tun.

Erster Schritt war die Identifikation der zu archivierenden Webseiten. Sie basierte einerseits auf Meldungen der Freiwilligen (u. a. per Google-Formular), andererseits auf einer Auswertung von WikiData sowie kommerzieller und offener Zone Files, aus denen die Domains und wichtige Subdomains – zum Beispiel Bibliothekskataloge – kultureller Institutionen extrahiert wurden. Dabei fand eine Art Triage statt, die die militärische Bedrohungslage und Komplexität der Webseiten berücksichtigte. Zu diesem Zweck arbeiteten einige SUCHO-Freiwillige als „situation monitors“. Anfang März 2022, während des Angriffs auf Charkiw, hatte SUCHO-Gründer Majstorović gerade hundert Gigabyte Archivmaterial des Staatsarchivs archiviert, als wenige Stunden später dessen Webseite offline ging.

Für die eigentliche Archivierung kamen automatische, halbautomatische und händische Methoden zum Einsatz: Webcrawling, Scraping, manueller Download und APIs. Für einfache Webseiten wurde die Wayback-Machine genutzt, für komplexere Webseiten kamen die Tools von Webrecorder (Browsertrix) zum Einsatz, besonders komplexe Seiten wurden von besonders technikaffinen Freiwilligen gescraped oder manuell bearbeitet. Letzteres war z. B. bei Repositorien nötig, die in der Ukraine wie andernorts oft die Open Source Software DSpace nutzen, wobei die Konfiguration zu wünschen übriglässt, so dass die OEA-PHM-Endpoints oft nicht für automatische Datenextraktion zu gebrauchen sind. Archiviert wurde in den Formaten WARC und bei Bedarf WACZ. Das Internet Archive und Amazon stellten kostenlos Datenvolumen bereit, zahlreiche Freiwillige nutzen ihre eigenen Kapazitäten. Alles war „learning by doing“, denn Zeit, sich ausführlich über große Projektstrukturen Gedanken zu machen, gab es nicht. Wer sich die Archivierung nicht zutraute, betätigte sich andernorts: Freiwillige mit bibliothekarischen oder archivarischen Kenntnissen erarbeiteten Metadatenschemata, solche mit Sprachkenntnissen vergaben die Metadaten und übersetzten wo nötig, andere prüften die downgeloadeten Seiten auf Vollständigkeit.

Insgesamt hat SUCHO in wenigen Monaten 5.400 Webseiten archiviert, etwa 51 Terabyte an Daten. An der Bereinigung der Metadaten wird noch gearbeitet. Das inhaltliche Spektrum reicht von großen und kleinen Archiven, Bibliotheken und Museen samt ihrer Findmittel, ohne die sie nicht mehr nutzbar wären, über Repositorien, Digital Humanities- und Oral-History-Projekte, Ausgrabungsdokumentationen bis hin zu touristischen 3D-Touren durch Klöster, Kirchen oder Zoos.13

Meme-Sammlung

Bereits im Mai 2022 schuf SUCHO die Infrastruktur für ein zweites Betätigungsfeld, nämlich die Sammlung von im Krieg entstehenden Memes. Dieses humoristische Internetphänomen, das vor allem in den sozialen Medien kursiert, spielt in der psychologischen Kriegsführung vom ersten Tag an eine erstaunliche Rolle. Man denke an die vier Bilder der prächtigen Kiewer Kathedralen des 10., 11. und 12. Jahrhunderts, die vier Bildern vom Moskauer Wald im 10., 11. und 12. Jahrhunderts gegenübergestellt wurden, oder an die Untergangsbilder des Kriegsschiffes Moskva mit „Ctrl. Z“SUCHO kreierte eine nach verschiedenen Kriterien zu filternde „Meme-Wall“14, die mittlerweile mehr als 3.000 Einheiten aus westlichen wie ukrainischen Quellen enthält. Memes gehören zweifelsohne zum digitalen Kulturgut – in diesem Fall nicht nur der Ukraine, sondern der ganzen sich für den Krieg interessierenden Welt. Sie sind allerdings extrem flüchtig, weswegen ihre Sammlung, Beschreibung und Archivierung einen Akt der Kulturgutrettung darstellt. Die Forschung zu Memes hat bereits jetzt begonnen.15 Die SUCHO-Sammlung stellt zweifelsohne eine sehr wichtige Quelle für sie dar.16 Im Übrigen entstehen mittlerweile auch andernorts Meme-Sammlungen zum Ukraine-Krieg, so gibt es z. B. seit 2023 das War Memes Museum unter https://warmemes.com.ua/.

Unterstützung von Digitalisierung

SUCHO nahm einige Wochen nach Gründung Kontakt zu urkainischen Kultureinrichtungen auf, um mehr über die Bedarfe dort und Unterstützungsmöglichkeiten zu erfahren. Ergebnis war die Schaffung einer SUCHO-Gallery: Exploring Ukrainian Cultural Heritage Online17, die dem Fundraising und dem Gebrauch ukrainischer Materialien für Bildungszwecke in- und außerhalb der Ukraine dient. Im August 2022 startete SUCHO dann eine zweite Phase, die unter dem Motto „Curate, Donate, Educate“ stehtZiel ist es, ukrainische Kultureinrichtungen bei der digitalen Bewahrung des materiellen Erbes vor Ort zu unterstützen, primär durch die Lieferung von Generatoren und Digitalisierungsausrüstung direkt an die Einrichtungen, die sie benötigen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den befreiten Gebieten. Teil dieser zweiten Phase ist zudem die Organisation und Durchführung von Schulungsangeboten zur Digitalisierung. Zu diesem Zweck wurde das Projekt Memory Saversgegründet, das ukrainischen Studierenden Stipendien für Digitalisierungsschulungen gibt, damit diese dann die Digitalisierung in kleineren Institutionen, in denen das Know-How noch fehlt, unterstützen.

Die Bayerische Staatsbibliothek und SUCHO

Die Bayerische Staatsbibliothek (BSB), die die wohl größte Sammlung an Ukrainica in Deutschland beherbergt, brachte ihre Erfahrungen, Kompetenzen und Verbindungen auf verschiedensten Ebenen in SUCHO ein. Zunächst wurden in den ersten Märztagen 2022 die Metadaten zu 1.300 einschlägigen ukrainischen Webseiten, die der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Fachinformationsdienst Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa18 und seine Vorgängerstrukturen in den vergangenen 20 Jahren gesammelt und über den Internetressourcen-Katalog OstNet19 zur Verfügung gestellt hat, ausgespeichert und in die SUCHO-Infrastruktur zur Archivierung eingepflegt. Sodann beteiligten sich vier Mitarbeiter*innen des Münchner Digitalisierungszentrums und der Osteuropaabteilung an der Archivierung von ukrainischen Repositorien und elektronischen Zeitschriften. Über die Suchmaschine BASE20 wurden zu diesem Zweck die OAI-Endpunkte der Repositorien in Erfahrung gebracht. Schätzungsweise konnten so mehrere 10.000 E-Books, darunter viele originär elektronische, sowie eine unbekannte Zahl an Forschungsdaten gesichert werden. Weitere Mitarbeiter*innen der Osteuropaabteilung arbeiten zudem teilweise auch in ihrer Freizeit in den SUCHO-Sektionen Qualitätskontrolle, Übersetzung und Metadaten sowie bei den Memes mit. Von Beginn an hat sich der FID-Ost auch mit seinen Netzwerken für SUCHO engagiert und Kontakte zu anderen deutschen Institutionen und Initiativen aufgebaut. Im Mai 2022 stellte die BSB kurzfristig bei der DFG einen Zusatzantrag zur Förderung ihrer Aktivitäten zur Ukraine, darunter die Mitarbeit bei SUCHO. Der Antrag wurde bewilligt, so dass seit 2023 eine geflüchtete ukrainische Historikerin als BSB-Mitarbeiterin SUCHO unterstützen kann. Darüber hinaus engagiert sich die BSB für SUCHO weiterhin mit Öffentlichkeitsarbeit und Maßnahmen des Community-Building durch Vorträge, Webinare und öffentliche Veranstaltungen, etwa auf der Leipziger Buchmesse und dem Deutschen Bilbliothekskongress 2023. In Planung ist ein weiteres Projekt gemeinsam mit SUCHO: der Aufbau einer digitalen ukrainischen Auslandsbibliothek in Form eines Katalogs. Ziel ist es, Metadaten digital(isiert)er Ukrainica weltweit zusammenzuführen. Der Katalog soll einerseits der Beförderung ukrainistischer Forschung dienen, andererseits spätestens mit Kriegsende der Ukraine zur Integration in ihre eigene nationale digitale Bibliothek übergeben werden können. Allein die Bayerische Staatsbibliothek wird hier ca. 2.000 urheberrechtsfreie und weitere 1.000 urheberrechtsbehaftete Titel beitragen können, die allesamt entweder Teil des ukrainischen kulturellen Erbes sind oder aber von diesem handeln. 

Schlussbemerkungen

SUCHO hat nicht nur den freiwillig Mitarbeitenden viele wertvolle Erkenntnisse beschert. Dazu gehört in erster Linie, dass Webseiten Kulturgut sind und dass letztlich fast jeder, der einen Computer und Internetanschluss besitzt, in der Lage ist, zu archivieren, was ihr/ihm wichtig ist, so dass persönliche Archive unter Umständen nicht weniger wertvoll sind als institutionelle.  Gezeigt hat sich auch, dass Digitalisierung kein Luxus ist, sondern eine Notwendigkeit. Denn Not-Digitalisierung ist ein schwieriges Unterfangen. Die Anforderungen an den Vorgang sind zwar nicht wirklich hoch, aber es braucht Equipment, geschultes Personal, verständliche Best-Practices und vor allem Plattformen, auf die die Daten hochgeladen werden können, die möglichst im Ausland liegen. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis aber ist, dass nur offene Kultur sichere Kultur ist, Open Access und möglichst offene Lizenzen also keine Nebensächlichkeit sind, sondern eine Vorsichtsmaßnahme, damit im Zweifelsfall Daten von außen gerettet werden können. Dazu braucht es keinen Krieg, es reichen Naturkatastrophen oder Zensur. Denn: Kein Land der Welt hat ihr digitales Kulturgut umfassend gesichert.

SUCHO ist inzwischen mit einer Vielzahl von etablierten Institutionen und Initiativen, die dem Kulturgutschutz verpflichtet sind, vernetzt, gefragter Gesprächspartner internationaler und ukrainischer Organisationen und hat sogar international Nachahmer gefunden.21 2023 wurde SUCHO mit dem European Cultural Heritage Award ausgezeichnet.22 Die gesammelten Erfahrungen werden hoffentlich sowohl für den Aufbau des Europäischen Kompetenzzentrums für Kulturerbe (4CH)23 als auch für nationale Webseitenarchivierungsvorhaben von Nutzen sein. 

Was mit den archivierten Daten nach dem Krieg geschieht, hängt stark von Verlauf und Ausgang des Krieges ab. Entscheiden werden dies diejenigen, denen die Daten gehören – die Ukrainer. SUCHOs primäres Ziel war es, Daten zu retten und nach dem Krieg zum Wiederaufbau ukrainischer digitaler Infrastrukturen zur Verfügung stellen zu können. Die Hoffnung ist, dass dies nicht nötig sein wird.

  1. Darunter Archive, Bibliotheken und Museen, Rundfunk und Presse, vgl. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und KatastrophenhilfeKritis-Sektor Medien und Kultur, <https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Kritische-Infrastrukturen/Sektoren-Branchen/Medien-Kultur/medien-kultur_node.html>, 24.9.2023. ↩︎
  2. Vgl.  Kulturerbe und Digitalisierung. Stellungnahme des Deutschen Kulturrats, März 2016, S. 1, <https://www.kulturrat.de/positionen/kulturerbe-und-digitalisierung>, 1.9.2023. ↩︎
  3. Gemeinsame Nominierung mit Österreich, Tschechischer Republik, Slowakei und Ungarn, <https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/blaudruck>, 1.8.2023. ↩︎
  4. Durch 18 Staaten nominiert <https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-weltweit/falknerei-als>, 10.3.2025. ↩︎
  5. Kulturerbe 2016, S. 2. ↩︎
  6. Vgl. Sander Münster: Advancements in 3D Heritage Data Aggregation and Enrichment in Europe. Implications for Designing the Jena Experimental Repository for the DFG 3D Viewer. In: Applied Sciences, 2023, 13(17), 9781, <https://doi.org/10.3390/app13179781>, 10.3.2025. ↩︎
  7. Vgl. <https://www.uni-marburg.de/de/aktuelles/news/2022/projekt-documenting-ukrainian-cultural-heritage-gestartet>, 24.9.2023. ↩︎
  8. Vgl. <https://poly.cam/ukraine>, 24.9.2023. ↩︎
  9. Vgl. <https://uccs.org.ua/>, 24.9.2023. ↩︎
  10. Vgl. <https://www.iwm.at/documenting-ukraine>, 24.9.2023.  ↩︎
  11. <https://culturecrimes.mkip.gov.ua>; <https://uaculture.org/culture-loss-en>; <https://www.blue-shield.de/ukraine-monitor>; <https://www.unesco.org/en/articles/damaged-cultural-sites-ukraine-verified-unesco>; <https://hub.conflictobservatory.org/portal/apps/sites/#/home>, alle 24.9.2023. ↩︎
  12. Vgl. <https://www.wired.com/2017/01/rogue-scientists-race-save-climate-data-trump/>, 10.3.2025. ↩︎
  13. Die Daten sind u. a. hier einzusehen: <https://www.sucho.org/archives>, 10.3.2025; <https://registry.opendata.aws/sucho/>, 22.9.2023. ↩︎
  14. <https://memes.sucho.org>, 24.9.2023. ↩︎
  15. Vgl. Joanna Nowotny, Julian Reidy: Memes – Formen und Folgen eines Internetphänomens. Bielefeld: transcript 2022. ↩︎
  16. Vgl. Anna Rakityanskaya: The SUCHO Ukrainian War Memes Collection. In: Slavic & East European Information Resources 24 (2023) H. 1, S. 53-70; s. auch die Meme-Ausstellung im Berlin Story Bunker 2022, <https://www.berlinstory.de/meme-museum/>, 24.9.2023. ↩︎
  17. <https://gallery.sucho.org/>, zuletzt 30.8.2023. ↩︎
  18. Mehr dazu unter <https://www.osmikon.de/servicemenue/ueber-uns/fachinformationsdienst-ost-ostmittel-und-suedosteuropa>, 1.9.2023. ↩︎
  19. <https://www.osmikon.de/servicemenue/ueber-uns/ueber-ostnet/>, 30.8.2023. ↩︎
  20. <https://www.base-search.net/>, 30.8.2023. ↩︎
  21. Vgl. die Initiative zu Hong Kong, <http://savehkonline.org/>, 22.9.2023. ↩︎
  22. <https://culture.ec.europa.eu/news/2023-european-heritage-awards-winners-announced>, 22.9.2023. ↩︎
  23. Vgl. Andrea Boeri u.a.: The 4CH project and enabling technologies for safeguarding the Cultural Heritage. In: TECHNE – Journal of Technology for Architecture and Environment (2023) Nr. 25, S. 162–172. ↩︎
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