Adrian-George Matus: The Long 1968 in Hungary and Romania

Adrian-George Matus: The Long 1968 in Hungary and Romania. De Gruyter: Berlin/Boston 2024. 289 S.

Die Erforschung widerständiger Jugendkulturen, abweichenden und nonkonformistischen Verhaltens in den Staaten des ehemaligen Ostblocks hat in den letzten Jahren einen erfreulichen Aufschwung genommen. Zu den hierbei immer wieder untersuchten Ländern gehören Rumänien und Ungarn, die zwar geografisch benachbart sind, zwischen 1960 und 1989 jedoch gegensätzliche politisch-ideologische Entwicklungen durchliefen: Während Ungarn eine (trotz aller Repressalien) relativ liberale politische Linie verfolgte, entwickelte sich Rumänien unter dem Präsidenten Nicolae Ceaușescu seit Anfang der 1970er-Jahre in eine immer stärker nationalistisch-neostalinistische Richtung.  Andra-Octavia Cioltan-Drăghiciu erforschte in ihrer 2019 erschienenen Dissertation vor diesem historischen Hintergrund das Verhalten der und die Erwartungen an die Jugend Rumäniens in den 1970er- und 1980er-Jahren. Die Zielsetzung ihrer Arbeit bestand darin, zu verstehen, welche Bedingungen, Umstände, kulturellen Prägungen und Vorbilder das Denken und Verhalten jener rumänischen Generationen bestimmten, die damals aufgewachsen waren und nach 1989 die Verantwortung für die Transformation übernahmen.1 In Ungarn gehören die Publikationen des Historikers Bence Csatári über die Entstehung der ungarischen Rockmusik, die Zensur der Popmusik und die Musikpolitik des Ungarischen Rundfunks zu jenen Werken, die den Forschungsstand bestimmen.2 Doch befassten sich mittlerweile auch Soziologen, Literaturwissenschaftler, Ethnologen und Kunsthistoriker mit unterschiedlichen Facetten der ungarischen Jugend-, Sub- und Gegenkultur, mit Phänomenen wie der Tanzhausbewegung Ende der 1960er-Jahre, der Entstehung unterschiedlicher ungarischer Subgenres der Populärkultur, dem Verhältnis „Staat“ und „Kultur“ oder mit der ungarischen Gesellschaftsgeschichte.3 Über die Entstehung ungarischer Rockgruppen Ende der 1960er-Jahre und die Geschichte einzelner Bands existieren schließlich auch einige Publikationen, wie auch über das vielfältige Spektrum des kulturellen Widerstands und die Formen von dessen Aufbewahrung und Musealisierung.4 Somit war der Boden bestens vorbereitet für die nun vorliegende Untersuchung von Adrian Matus, der in seiner 2002 an der Universität Florenz eingereichten Dissertation eine vergleichende Analyse der ungarischen und rumänischen 1968er-Bewegung vornimmt. Damit möchte er einen Beitrag zur internationalen 68er-Forschung liefern, indem er den Blick auf Osteuropa und die dortigen Proteste lenkt, deren Aktivitäten zwar, wie er im Vorwort unterstreicht, vom Einfluss her und zahlenmäßig als schwach anzusehen sind, die den jeweiligen Behörden aber dennoch Sorgen bereiteten. Hierbei berührt seine Untersuchung die Frage, ob und wann abweichendes Verhalten, das Hören bestimmter Musikgenres und das Lesen von bestimmten Autoren bereits als Widerstand oder lediglich als nonkonformistisches Verhalten anzusehen ist. Matus benennt dies als grundsätzliches Problem seiner Studie, ohne dazu dezidiert Stellung zu beziehen.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile mit je zwei Kapiteln und einer Vielzahl an Unterkapiteln. Im ersten Teil stellt der Autor den generationellen und institutionellen Kontext dar. Dabei geht es um die Prägungen einer Generation, die Anfang bis Mitte der 1940er-Jahre geboren wurde, teils familiäre Holocausterfahrungen hatte, teils ohne Väter, dafür aber mit politischen Zäsuren und dem Erlebnis des Aufstands in Ungarn 1956 aufgewachsen war, dessen Folgen selbst in manchen Städten Rumäniens (Klausenburg/Cluj-Napoca, Temeswar/Timișoara) zu spüren waren. Die 68er-Generation war die erste, die im Zeichen der marxistischen Ideologie, mit sowjetischer Kinder- und Jugendliteratur aufgewachsen und erzogen worden war. Den Institutionen (Schule, Bibliotheken, Jugendorganisationen), die diese Indoktrination durchgeführt haben, gilt Matus‘ Interesse im zweiten Kapitel. Im Gefolge György Péteris fragt Matus im zweiten Teil der Untersuchung, ob der gewöhnlich für undurchlässig gehaltene „Eiserne Vorhang“ nicht doch eher als ein „Nylon Curtain“ angesehen werden sollte. Schließlich gelangten mittels des Äthers durch die Sendungen des von den USA finanzierten „Radio Free Europe“ nicht nur politische Inhalte in den Ostblock, sondern, was für die Jugend viel interessanter war, auch die neue aufregende Musik der 1950er-Jahre, der Rock and Roll. Matus analysiert auch die Versuche ungarischer und rumänischer Jugendlicher, in Briefen Kontakt zu den von ihnen verehrten Moderatoren des Senders aufzunehmen, um sie um das Abspielen bestimmter Songs zu bitten. Auf welche vielfältige Art und Weise die Jugend in Osteuropa versuchte, trotz der existierenden Mangelwirtschaft an die begehrten Aufnahmen ihrer Idole, an selbst gebastelte elektrische Gitarren und Instrumente zu kommen, zeichnet der Autor im zweiten Kapitel dieses Teils nach. An diesen Teil schließt sich das letzte Drittel des Bandes (S. 185–267) an, in dem sich Matus in den Kapiteln fünf und sechs mit ungarischen und rumänischen 68ern auseinandersetzt. Dabei stellt er als jeweilige geistige Inspirationsfiguren den Philosophen György Lukács (1885–1971) und den Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907–1986) vor und leitet aus deren zentraler Stellung ab, warum sich die beiden Jugendbewegungen in je eigene Richtungen entwickelten. Denn während sich in Ungarn Mitte der 1960er-Jahre im Zuge einer langsamen, auch von Westeuropa her genährten marxistischen Renaissance eine maoistische Gruppe entstand (mit den nachmals berühmt gewordenen György Dalos und Miklós Haraszti im Zentrum), entwickelte sich in Rumänien um 1968 herum eher ein Interesse an der „Generation 27“ in der Zwischenkriegszeit. Dazu gehörte neben Eliade auch Emil Cioran (1911–1995), beide drifteten in den 1930er-Jahren in den Dunstkreis der faschistisch-mystischen „Eisernen Garde“ ab, die das rumänische Bauerntum verherrlichte. Im letzten Kapitel stellt Matus nun mehrere esoterische, rumänischen Folk-Rock spielende Musiker und Bands in den Mittelpunkt, die heute wohl nur noch Spezialisten bekannt sind. Während allerdings manche (Dorin Liviu Zaharia, Ceata Melopoică, Marcela Saftiuc) lediglich von der Volks- und Kirchenmusik inspirierte Lieder komponierten, avancierte eine Showveranstaltung um den Dichter Adrian Păunescu (1943–2010) seit Mitte der 1970er-Jahre immer mehr zu einer ultranationalistischen, panegyrischen Staatsveranstaltung. Matus zieht daher auch das folgerichtige Fazit, dass der rumänische Staat die widerständige Gegenkultur entführt, sich angeeignet hatte. Die erwähnte, kleine maoistische Gruppe in Ungarn wurde auch schnell zerschlagen.

Das Verdienst der vorliegenden Untersuchung besteht darin, das Augenmerk auf einige weitgehend unbekannte Phänomene und Erscheinungsformen ungarischer und rumänischer Protestkultur gelenkt zu haben und damit sowohl die Forschungen zur dissidentischen Kultur des Ostblocks als auch zu 1968 mit interessanten Facetten bereichert zu haben. Die gut gegliederte Arbeit beleuchtet sorgsam den historischen Hintergrund dieser Kultur, allerdings ist dieser Hintergrund umfangreicher als der Hauptteil, die Kapitel fünf und sechs. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob nicht die in den Fokus gerückten Gruppen in ihrer Bedeutung überschätzt werden. Matus selbst erkennt an, dass die ungarischen Maoisten, die er im fünften Kapitel ausführlich darstellt, allenfalls aus einigen Dutzend Jugendlichen bestanden. Hieraus eine „Hippiebewegung“ bzw. „-kultur“ abzuleiten, wobei eine scharfe Begriffsdefinition des Hippietums unterbleibt, ist natürlich eine Übertreibung. Dass Matus hierbei die Erinnerungen von György Dalos ignoriert, ist nur ein Mangel der Arbeit, und nicht einmal der offensichtlichste.5 Er lässt nämlich auch die reiche Literatur zur ungarischen Jugend und zur Jugend- sowie Musikkultur in den 1960er-Jahren außer Acht. (Die 1969 gegründete Band „P. Mobil“ wäre gewiss eine Analyse Wert gewesen!). Dies mag vielleicht an mangelnden Ungarischkenntnissen liegen, denn anders lässt sich nicht erklären, warum die meisten ungarischen Namen und alle ungarischen Zitate, die wörtlich wiedergegeben werden, so sehr vor Fehlern strotzen. Der Autor zitiert mehrfach den aus Siebenbürgen stammenden ungarischen Philosophen Miklós Tamás Gáspár (1948–2023), der bis 1978 in Rumänien lebte. Damit bezieht er indirekt auch die ungarische Minderheit Rumäniens in die Untersuchung ein, was positiv ist, doch lässt er sich die Chance entgehen, jenen Kreis junger ungarischer Intellektueller zu analysieren, dessen Teil Tamás war und der als Teil eines zaghaften intellektuellen Protests angesehen werden könnte, den man auf 1968 zurückführen kann. Diese siebenbürgisch-ungarische Intellektuellengeneration, die um 1970 herum anfing, sich publizistisch zu artikulieren, hatte den Glauben an den sozialistischen Staat und dessen Reformierbarkeit längst verloren. Und selbstverständlich wäre eine Deutung der rumäniendeutschen „Aktionsgruppe Banat“ in diesem Kontext ebenfalls fruchtbringend gewesen. Eine Einbeziehung solcher „Randgruppen“ hätte also Matus‘ Untersuchung auf breitere Beine gestellt und den Eindruck verhindert, dass er einigen Splittergruppen über Gebühr Beachtung schenkt. Matus entgeht leider auch die beinahe paranoide Furcht der ungarischen Kádár-Regierung nach 1956 vor nationalen (und erst recht vor nationalistischen) Themen, Aspekten und Bezügen. Erst diese Furcht erklärt jedoch, warum die ungarischen 68er (entgegen einem Teil der rumänischen Generation) keine nationalistische Wende durchmachten, keine esoterisch-mystischen Züge annahmen. Diese dennoch spannend zu lesende Dissertation schöpft somit das Thema nicht endgültig aus und bleibt hinter den Erwartungen zurück.

Franz Sz. Horváth

  1. Andra-Octavia Cioltan-Drăghiciu: „Gut gekämmt ist halb gestutzt“. Jugendliche im sozialistischen Rumänien. Wien 2019. ↩︎
  2. Benc Csatári: Nekem írod a dalt. A könnyűzenei cenzúra a Kádár-Rendszerben. Budapest 2017; ders., Jampecek a pagodában. A Magyar Rádió könnyűzenei politikája a Kádár-rendszerben. Budapest 2016; ders., Az ész a fontos, nem a haj. A Kádár-rendszer künnyűzenei politikája. Budapest 2015; ders., Azok a régi csibészek. Párbeszéd a rock and rollról. Budapest 2016. ↩︎
  3. Ádám Ignácz (Hg.): Populáris zene és államhatalom. Tizenöt tanulmány. Budapest 2017; Tibor Valuch: Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében. Budapest 2005. ↩︎
  4. Béla Jávorszky – János Sebők: A magyarock története. I-II. Budapest 2006-2006; Ákos Dudich: Pótolhatatlan halhatatlanság! A Vágtázó Halottkémek életereje. Budapest 2011; Péter APor – Lóránt Bódi – Sándor Horváth – Heléne Huhák – Tamás Scheibner (Hgg.): Kulturális ellenállás a Kádár-korszakban. Gyűjtemények története. Budapest 2018. ↩︎
  5. György Dalos: Für, gegen und ohne Kommunismus. Erinnerungen. München 2019. ↩︎
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