Anca Parvulescu, Manuela Boatca: Creolizing the Modern. Transylvania Across Empires

Anca Parvulescu, Manuela Boatcă: Creolizing the Modern. Transylvania across Empires. Ithaca – London: Cornell University Press 2022. 261 S.

Der Roman „Ion“ des 1885 in Siebenbürgen (im damaligen Ungarn) geborenen rumänischen Schriftstellers und Dramatikers Liviu Rebreanu zählt zu den Klassikern der rumänischen Literatur und liegt seit Jahrzehnten in allen Weltsprachen vor. Ins Deutsche übertragen wurde er in den 1960er-Jahren von Paul Schuster und erschien 1969 auch im Ostberliner Verlag „Volk und Welt“ unter dem Titel „Mitgift“. Dieser Titel betont eines der relevanten Themen des Romans, während der Originaltitel den Hauptprotagonisten ins Zentrum rückt. Ion lebt als armer Bauer in einem fiktiven Dorf Siebenbürgens, das von Rumänen bewohnt wird. Sein ganzes Trachten gilt dem Erwerb von Land, um dem Makel der sozialen Inferiorität zu entkommen. Deshalb erzwingt er die Heirat mit Ana, der Tochter des vermögenden Bauern Baciu, der seine Tochter eher an der Seite des reichen Bauernsohnes George sehen würde. Der rumänische Dorflehrer samt seiner Familie, den heiratswilligen Töchtern, welchen er aber kein Mitgift geben kann, der Dorfpope, dessen Hauptziel im Erbauen einer neuen und großen Kirche liegt und die ungarischen Behörden, die zwar insgesamt das Sagen haben, aber sinnigerweise nicht im Dorf ihrer Ämter walten, sind weitere Protagonisten, die das Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner bestimmen. All diese Personen und Kreise bilden den Mikrokosmos des Romans, der in unzähligen Verästelungen, Verweisen und Anspielungen soziale, politische, inner- und interethnische, erotische usw. Spannungen, Wünsche und Begehren, nationalistische und irredentistische Vorgehen und Sehnsüchte, rassistische, antisemitische und sexistisch-chauvinistische Auswüchse, Klischees, Stereotypen und sehr oft brutale Gewalt zeigt. Zum Makrokosmos gehören Verweise auf die entweder negativ oder positiv belegten näheren und ferneren Orte Bistritz (rum. Bistrița), Klausenburg (rum. Cluj-Napoca), Budapest und Bukarest.

Die beiden in Deutschland und den USA lehrenden Wissenschaftlerinnen Anca Parvulescu und Manuela Boatcăunternehmen in ihrer gleichermaßen innovativen wie fesselnden Studie den Versuch, durch eine dichte und vielschichtige Analyse des Romans diesen auf die Landkarte der zuletzt viel beschworenen Studien zu Kolonialismus und „inter-imperiality“ zu setzen. Dabei soll es darum gehen, Siebenbürgens einzigartige Position an der Kreuzung vieler Reiche zu betonen, die Region in die Weltgeschichte, die Weltliteratur und die Weltsystemanalyse einzubetten und den Einfluss globaler Machtkonstellationen, v. a. des Kolonialismus, auf die Region herauszuarbeiten. Wie die Autorinnen betonen, geht es ihnen um eine Überwindung der ethnischen Perspektive und einen Fokus auf Siebenbürgen zwischen Reichen und halbperipheren Bedingungen. Das Ziel ihrer Studie bestehe in einem Perspektivenwechsel, damit die Welt vom osteuropäischen Land aus wahrgenommen wird und nicht (wie gewöhnlich) von den Städten des kapitalistischen Westens her. Mit dem Ausdruck „creolizing“ sei schließlich ein Prozess kultureller, ethnischer, sprachlicher Vermischung und insbesondere die Transformation ungleicher Mächteverhältnisse, die Wechselwirkung zwischen Modernität und Kolonialismus, Enteignung und Unterdrückung gemeint. Als eine weitere Zielsetzung geben die Autorinnen die Brückenbildung zwischen postkolonialer Theorie, dem „decolonial thought“ und „inter-imperiality“ aus.

Das Vorgehen in den sieben Kapiteln der Untersuchung ist dabei immer gleich und entspricht einer Annäherung an die jeweilige Frage von der postkolonialen Theorie her in die Richtung des Untersuchungsgegenstands. Gefragt wird demnach zuerst, was die Soziologie oder Literaturwissenschaft zu unterschiedlichen Problemstellungen in Bezug auf das koloniale Indien, die karibischen Inseln oder Afrika herausgefunden und herausgearbeitet haben. In einem zweiten Schritt wird die Aufmerksamkeit auf Osteuropa und die Habsburgermonarchie gelenkt, um sodann in einigen Unterkapiteln den Roman daraufhin befragen, wie in ihm Fragen nach Landbesitz, Eigentum und dem Bauerntum (Kapitel 1), nach der wirtschaftlichen Integration, der Peripherisierung und antisemitischen Einstellungen (Kapitel 2) oder dem Umgang mit den Sinti und Roma (Kapitel 3) ausgehandelt und beantwortet werden. In den weiteren Kapiteln stehen die Mehrsprachigkeit (Kapitel 4), Nationalismus, Frauenarbeit und Gewalt gegen Frauen (Kapitel 5), Frauenerziehung (Kapitel 6) oder die Stellung der (rumänischen) Kirche in der Welt des Dorfes (Kapitel 7) im Mittelpunkt des Interesses.

Die Autorinnen fassen den Roman letztlich als Produkt und Chronik einer „Zwischen-Imperialität“ auf, erkennbar u. a. daran, dass während er in Rumänien zum Literaturkanon gehört und Schullektüre ist, er weltweit trotz Übersetzungen in die Weltsprachen so gut wie unbekannt geblieben ist. Er ist ein Text „vom Rande“, vom Rande der Weltkultur und der anerkannten Orte für Theorie- und Konzeptbildung. Auch den Autor Rebreanu sehen Parvulescu und Boatcă in einer eigenartigen Zwischenstellung zwischen Budapest und Bukarest, schließlich lebte und wirkte er in beiden Sprachen und beiden Hauptstädten. Dementsprechend erblicken sie auch in Siebenbürgen einen Zwischenort, ein Übergangs- und Migrationsgebiet, in dem im Roman selbst Tiere wie Hunde und Kühe durch ein ethnisches Prisma gedeutet werden. Hybridität, eine Mehrsprachigkeit, die aber gut mit nationalistischer Sprachabwehr und Sprachzwang harmoniert, die Figur des jungen Intellektuellen (der Lehrersohn Titu), der sich die Sprache und Kultur der Herrschernation aneignet, um sich nachher mit umso größerer Inbrunst und unduldsamem Nationalismus der eigenen Sprache und Kultur zu widmen, sind Aspekte, zu welchen die Autorinnen Bezüge herstellen, indem sie von Überlegungen der kolonialen Theorie ausgehen. Doch verknüpfen sie diese auch mit der Wirtschaft, mit Fragen nach der Assimilierung, mit nationaler Identität, Themen wie Liebes- und Zweckheirat, der Mitgift und des Jungfertums, der Frauenemanzipation und -erziehung, um weitere Linien zu gleich gelagerten Erscheinungen und Feststellungen ziehen zu können: sei es in Bezug auf die Karibik oder Afrika oder Indien. Den Roman analysierend betonen die Autorinnen den Mehrheits- und den Minderheitennationalismus genauso wie das konservative und nationalistische Gesellschaftsbild Rebreanus und verweisen mehrfach darauf, dass er selbstverständlich auch andere Frauengestalten hätte entwickeln können als einerseits die Lehrertochter Laura, die in Ermangelung einer Mitgift ihren Körper in den Dienst der „nationalen Reproduktion“ stellt oder Ana, die zwar wegen ihrer Mitgift geheiratet, aber nicht geliebt, sondern vergewaltigt, geschlagen und in den Selbstmord getrieben wird. Denn im damaligen Ungarn wie auch in Siebenbürgen hätten dem Autor auch andere, moderne(re) zeitgenössische Frauen zum Vorbild gereichen können. Doch schildert er moderne Frauentypen in seinem Roman durchweg in negativen Farben und Kontexten.

Den beiden Autorinnen ist eine spannende und anregende Studie geglückt. Dennoch wirft sie die Frage auf, was die Darstellung aus der Verknüpfung der Analyse mit Aspekten der Dekolonisierung, der „inter-imperiality“ usw. gewonnen hat. Oder, von einem anderen Blickwinkel aus gefragt: Weist das Buch Ergebnisse und Erkenntnisse auf, die es ohne diese Verknüpfung nicht hätte? Der Rezensent bekennt seine Ratlosigkeit und Skepsis in dieser Hinsicht. Denn mögen die Verweise auf Virginia Woolf oder Mary Wollstonecraft und deren Schriften, Konzepte oder emanzipatorischen Ansätze noch so interessant sein und mögen die Querbezüge zur Lage von jungen Hindi-Intellektuellen in Indien noch so viele Parallelen zu Titu Herdelean aufweisen, dennoch erscheinen diese Parallelen nicht wirklich paradigmatisch. Dass Anas Jungfräulichkeit ein Pfand in der Hand ihres Vaters darstellt, dass sie aus den Verhandlungen der Männer ausgeschlossen ist, obwohl sie über ihren Kopf hinweg über sie selbst und ihr Leben verhandeln und somit eine Art „Frauenhandel“ treiben: zu solchen Erkenntnissen kann man auch ohne postkoloniale Theorien gelangen. Dass Siebenbürgen (Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts) Teil des weltweiten Kapitalismus war und sich dies im Roman in den ein paar Mal erwähnten Banken und deren Kreditsystem spiegelt, ist ebenfalls weder weltbewegend noch wirklich just auf die nordsiebenbürgische Region im herausragenden Maße zutreffend, in der sich die Romanhandlung abspielt (da wären Klausenburg, Großwardein/Oradea oder Temeswar/Timișoara geeignetere Beispiele gewesen). Dieser Aspekt bzw. dieses Kapitel verdeutlichen wohl am besten, dass die Autorinnen mit ihrem Konzept dem Roman (und der Region) etwas oktroyieren wollen, was aber nicht wirklich passt. Zu selten betreten die Autorinnen jenen Pfad, auf dem sie tatsächlich die Zwischenstellung und Sonderbehandlung Siebenbürgens durch die jeweiligen Hauptstädte hätten herausarbeiten können. In Bezug auf den Gebrauch der Muttersprache in der Öffentlichkeit gelingt ihnen dies: Sie unterstreichen, dass 1784 die Ungarn der Region den Gebrauch und den Vorrang des Deutschen als gegen sie gerichtet wahrgenommen hatten. 100 Jahre später, 1884, nahmen die Rumänen die vorgeschriebene Vorrangstellung des Ungarischen als den Versuch wahr, sie zu zwangsassimilieren und einige Jahrzehnte später beklagten sich schließlich die Siebenbürger Sachsen und die Ungarn über ihre Zwangsrumänisierung und das Verbot des Gebrauchs ihrer Sprache in der Öffentlichkeit. Die konsequente Anwendung solcher Längsschnitte über den Romanstoff hinaus und in Bezug auf die Zwischenkriegszeit und die Zeit nach 1945 hätte die Studie tatsächlich zu einem Meisterwerk werden lassen können. Sie wäre ein wichtiger Beitrag zum Transsilvanismus geworden. So vermisst man aber am Ende nicht nur eine synthetisierende und die Ergebnisse auf eine Metaebene transferierende Zusammenfassung, sondern mitunter auch relevante Fachliteratur (so etwa die Studien Ingrid Schiels über die sächsische Frauenbewegung). Die ungarische Schriftstellerin Mária Berde wird irrtümlich für eine Siebenbürger Sächsin gehalten. Wer gern postkolonial gefärbte und soziologisch angehauchte Literaturdeutungen liest, wird das Buch bestimmt mit Gewinn lesen.

Franz Sz. Horváth

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