Björn Opfer-Klinger, Ernst Klett Verlag, Leipzig
Dr. Björn Opfer-Klinger (geb. 1972). Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Osteuropäischen und südosteuropäischen Geschichte sowie der Politikwissenschaften an den Universitäten Göttingen und Wien. Promotion an der Universität Leipzig zur bulgarischen Besatzungsherrschaft in Mazedonien während der beiden Weltkriege. Redakteur für Bildungsmedien beim Ernst Klett Verlag in Leipzig.
Das Territorium des heutigen bulgarischen Staates war und ist geprägt von vielfältiger ethnischer und religiöser Migration. Dazu trug die geographische Lage an der Donau und der Schwarzmeerküste ebenso bei, wie die unmittelbare Nähe zum Ägäischen Meer bzw. zum Bosporus und den Dardanellen. Dazu zählte auch die Ein- und Durchwanderung von Armeniern seit der Spätantike.
In der heutigen Republik Bulgarien stellt die armenische Bevölkerung zahlenmäßig eine nur kleine Minderheit. Folgt man der offiziellen Bevölkerungsstatistik, ist sie heute die fünftgrößte ethnische Gruppe im Land. Allerdings sind diese Zahlen, wie noch zu sehen sein wird, nicht unumstritten. Lange Zeit waren die bulgarischen Armenier kaum im Blick wissenschaftlicher Untersuchungen. Erst seit der Jahrtausendwende fanden kleinere Minoritäten wie die bulgarischen Armenier stärkere Berücksichtigung in wissenschaftlichen Betrachtungen.1
Armenische Einwanderungsbewegungen und Kulturleben vor 1890
Die ersten armenischen Spuren lassen sich bis etwa ins späte 5. Jahrhundert zurückverfolgen.2 Hintergrund dieser Migration dürfte in erster Linie die Stationierung armenischer Soldaten bzw. ihrer Familien in den Diensten des Oströmischen Reiches in Makedonien, Thrakien und entlang der Donau gewesen sein. Aber auch unfreiwillige Umsiedlungsaktionen gehörten dazu, wie die Flucht infolge religiöser Verfolgung, schlossen sich doch viele Armenier häretischen Bewegungen wie z. B. den Paulikianern oder Tondrakianern an. Im Hochmittelalter folgten vermehrt Angehörige der Armenisch-Apostolischen Kirche und Anhänger der chalzedonischen Christologie.3 Es ist auch davon auszugehen, dass die Glanzzeit des ersten Bulgarischen Reiches im 9. Jahrhundert sowie in der Zeit des West- und des Ostbulgarischen Reiches im ausgehenden 10. Jahrhundert Armenier als Handelstreibende oder Handwerker in die urbanen Zentren von Makedonien und Thrakien einwandern ließ. Über eine annähernde Zahl oder die Frage, für wie viele Personen Bulgarien nur eine Zwischenstation war bzw. sie sich in der slawischen Mehrheitsbevölkerung assimilierten, können allenfalls vage Schätzungen abgegeben werden. Als gesichert gilt, dass es im 9./10. Jahrhundert auch familiäre Bande zwischen dem bulgarischen Adel und armenischen Fürstentümern im östlichen Anatolien bzw. armenisch-byzantinischem Adel gab.4 So war die Ehefrau des Zaren Peter I. (927–969) verwandt mit Romanos I. Lekapenos, dem byzantinischen Kaiser armenischer Abstammung (920–944). Bekannt ist auch, dass die Mutter des bulgarischen Zaren Samuil (997–1014), Hripsime, eine Tochter des armenischen Königs Ashot II. (915–928) aus der Dynastie der Bagratuni war.5
Im 13./14. Jahrhundert existierten armenische Kolonien u.a. in Sofia, Strumica und Warna. Weitere größere Einwanderungsbewegungen sind für das ausgehende 15. und 16. Jahrhundert belegt, jener Zeit, in der das Osmanische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht und in seiner kulturellen Blüte stand. Dazu zählten armenische Migranten aus dem Schwarzmeergebiet, wie etwa aus der Handelsstadt Kaffa von der Halbinsel Krim, aber auch aus den zwischen Persien und dem Osmanischen Reich umkämpften Gebieten.6 Ziele dieser armenischen Zuwanderung waren größere, prosperierende Handelsstädte wie Plowdiw oder Warna. Nicht selten waren unter den Zuwanderern Spezialisten wie Goldschmiede, Schneider, Steinmetze und Weber, die die lokale Wirtschaft spürbar prägten. Der bulgarisch-katholische Bischof Petăr Bogdan Bakšev (1601–1674) berichtete als Zeitgenosse von einer bereits spürbaren Präsenz armenischer Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien. Für Plowdiw verzeichnete er bereits für Anfang des 17. Jahrhundert etwa 100, für Sofia und Russe um 1640 jeweils rund 200 armenische Haushalte sowie kleinere armenische Kolonien in weiteren Städten wie Šumen, Dobrič, Pazardžik, Burgas, Tărnowo, Silistra, Razgrad und Sliwen.7 Für die nachfolgenden zwei Jahrhunderte liegen hingegen nur sehr spärliche Quellen zu armenischen Gemeinden vor. Die meisten Zeugnisse existieren zur Plowdiwer Gemeinde, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus schätzungsweise 150 bis 200 armenischen Familien bestand.8
Zu dieser Zeit zählte die Stadt neben Edirne und Saloniki zu den aufstrebenden wirtschaftlichen und kulturellen Zentren der westlichen osmanischen Reichshälfte. Mit einem zunehmend wohlhabenden Bürgertum in Gestalt von Händlern und Handwerkern wurde Plowdiw während der osmanischen Tanzimat-Reformzeit zu einem der Ausgangspunkte der so genannten bulgarischen „Wiedergeburt“. In diesem Umfeld prosperierte die Plowdiwer Gemeinde spürbar. Sie eröffnete zunächst in sehr provisorischer Form eine kleine Sonntagsschule, aus der 1834 die erste armenische Grundschule für Jungen mit kleinem Kindergarten unmittelbar an der Kirche Sur Surp in der Plowdiwer Altstadt hervorging.9 Später entstand auch eine kleine Mädchenschule. Bis heute hat diese Schulgründung einen hohen ideellen Stellenwert für die Identität der bulgarischen Armenier. Unter Federführung des armenischen Rechtsanwalts Vahinak Hajrabedjan wurden 1926 die Jungen- und Mädchenschule zusammengelegt und als Mittelschule registriert. 1942 stiftete das Ehepaar Viktoria und Krikor Tjutjundzhjan den Bau eines neuen, größeren Schulgebäudes. Nach der zeitweiligen Schließung der Einrichtung 1976 wurde die 1990 wiedergegründete Schule nach diesem Ehepaar benannt.10 Nicht nur, aber auch wegen dieser ersten armenischen Schule, ist Plowdiw das kulturelle Zentrum des Armeniertums in Bulgarien geblieben.
Die Herausbildung einer bulgarischen Nationalbewegung wirkte sich auch auf die armenischen Gemeinden aus. Historiker wie Louise Nalbandian gehen davon aus, dass die frühe armenische Nationalbewegung spürbar von der bulgarischen „Wiedergeburt“ beeinflusst wurde.11 Inwieweit allerdings einzelne Armenier die bulgarischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen die osmanische Herrschaft direkt oder indirekt unterstützten, ist umstritten. Fest steht, dass die Gründung des bulgarischen Fürstentums dank der relativ liberalen Verfassung von Tărnowo, die den Einwohnern unabhängig von ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit die bulgarische Staatsbürgerschaft ermöglichte, die Attraktivität Bulgariens u.a. für armenische Einwanderer steigerte. Lebten 1878 im bulgarischen Fürstentum und dem autonomen Ostrumelien zusammen etwa 5.300 Armenier, so stieg diese Zahl bis 1900 auf über 14.500 an, was ungefähr 0,4% der Gesamtbevölkerung betrug. Dies machte sich seitdem auch in der Gründung verschiedener, wenn auch meist kurzlebiger armenischsprachiger Presseerzeugnisse bemerkbar.12 Kurzzeitig sank die Zahl armenischer Gemeindemitglieder allerdings wieder, wahrscheinlich nachdem die jungtürkische Revolution anfänglich Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse für die armenische Bevölkerung geweckt und armenische Migranten zur Rückkehr nach Armenien ermutigt hatte.13 1910 verzeichnete der bulgarische Zensus nur noch knapp 13.000 Armenier im Land.14
Die Bedeutung der eingewanderten armenischen Revolutionäre zur Zeit der Pogrome, Kriege und Genozide
Das Anwachsen der armenischen Diaspora war nicht zuletzt auf die antiarmenischen Pogrome im Osmanischen Reich 1895/96 zurückzuführen. In diesen Jahren flohen allein mehrere tausend Personen in das Fürstentum Bulgarien, wovon einige dauerhaft blieben. Unter diesen Geflüchteten befanden sich auch Anhänger der drei wichtigsten armenischen Oppositionsparteien des Osmanischen Reiches, der Sozialdemokratischen Partei (Huntschak), der Demokratischen Liberalen Partei (Ramgawar) und der Armenischen Revolutionären Föderation (Dashnak). In Bulgarien traten sie zwar nicht offen im politischen Leben des Landes in Erscheinung, infolge der verbreiteten antiosmanischen Haltung der gesellschaftlichen Eliten des Landes entstanden jedoch sehr bald enge Kontakte zwischen den armenischen Revolutionären einerseits und der bulgarischen Staatsverwaltung bzw. dem Militär andererseits. Wichtige Akteure dieser zunächst noch losen politischen armenischen Netzwerke in Warna und Plowdiw waren beispielsweise die Revolutionäre Garegin Nschdeh, Andranik Ozanjan, und Simon Vratjan.
Diese Netzwerke müssen auch in Zusammenhang mit einem weiteren Umstand gesehen werden: Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Südosteuropa und dem Orient eine wachsende Zahl militanter Organisationen, sei es mit anarchistischem, sozialistischem, agrarrevolutionärem oder nationalistischem Hintergrund oder einer Mischung aus mehreren dieser Ideologien. Über die Frühphase der Präsenz armenischer Revolutionäre in Bulgarien ist wenig geforscht worden und so kann beispielsweise nicht mit Sicherheit gesagt werden, inwieweit sich Mitglieder der einheimischen armenischen Minderheit diesen revolutionären Bewegungen wie der Dashnak anschlossen oder diese indirekt unterstützten. Von Bedeutung war die Bildung enger Kontakte zwischen den armenischen Revolutionären und den führenden Akteuren der in Saloniki gegründeten Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), wie Boris Sarafow oder Simon Radew, Mitglieder der 1899 in Plowdiw gegründeten Zelle der Armenischen Revolutionären Föderation.15 Ein weiterer wichtiger Kontakt bildete sich zwischen armenischen Revolutionären und dem bulgarischen Diplomaten, Politiker und Journalisten Simeon Radew heraus.16 Darüber hinaus entwickelten sich auch Beziehungen zu Mitgliedern der Jungtürken. Ein Beispiel für enge Verbindungen zur bulgarischen Gesellschaft war der Dichter Pejo Jaworow, der als Begründer des bulgarischen Symbolismus angesehen wird. Jaworow kämpfte Anfang des 20. Jahrhunderts aktiv für die IMRO und schrieb mehrere Gedichte über den armenischen Kampf gegen das „türkische Joch“, die wiederum Autoren aus den Reihen der armenischen Revolutionäre beeinflussten.
Gegen Einrichtungen des osmanischen Staates erfolgten 1901 erste kleinere gemeinsame Guerillaoperationen der armenischen und makedonischen Revolutionäre. Diese fanden über die bulgarische Grenze hinweg in Ostthrakien und in Istanbul statt.
Wie eng bald der Kontakt zwischen der Armenischen Revolutionären Föderation und bulgarischen Regierungskreisen war, beweist der Umstand, dass diese 1903 und 1909 ihren internationalen Weltkongress zunächst in der bulgarischen Hauptstadt und dann in Warna abhielt. Das Kontaktnetz zur IMRO und damit auch zur bulgarischen Armeeführung ermöglichte es sogar, dass armenische Revolutionäre seit 1906 an der bulgarischen Militärakademie ausgebildet wurden.17 Als Bulgarien in einem losen Bündnis mit Griechenland, Serbien und Montenegro 1912 das Osmanische Reich angriff, kämpften viele Armenier als Freiwillige im bulgarischen Heer. Dazu zählte auch eine 280 Mann starke armenische Kompanie im Makedonisch-Odrinischen Freiwilligenkorps. Der Kommandeur dieser armenischen Kompanie war Andranik Ozanjan, der später ein wichtiger Akteur der ersten armenischen Republik 1918/19 werden sollte.
Ein weiterer in diesem Zusammenhang bekannter armenischer Revolutionär war Garegin Nschdeh, der seit 1906 wiederholt in Bulgarien lebte und von dort aus an Terroranschlägen gegen osmanische Einrichtung teilnahm. Garegin Nschdeh besaß sehr gute Kontakte zum bulgarischen Militär und zur IMRO. Er gehörte zu jenen Armeniern, die eine Ausbildung an der Dmitri-Nikolow-Militärakademie in Sofia erhielten. In den Balkankriegen 1912/13 kämpfte er als Unteroffizier in der bulgarischen Armee. Später spielte auch er in der ersten armenischen Republik eine wichtige Rolle. Nach deren Untergang kehrte Nschdeh in den 1920er-Jahren nach Bulgarien zurück, wo er eine einheimische Armenierin heiratete und sich eng mit armenischen Diasporagemeinden in Rumänien und den USA vernetzte. Nachdem Nschdeh von 1933 bis 1937 in den USA gelebt hatte, kehrte er erneut nach Bulgarien zurück, gab eine armenischsprachige Zeitung heraus und spielte eine wichtige Rolle in der dortigen armenischen Intellektuellenszene des Landes. Er pflegte seine alten Kontakte zur IMRO und zu nationalistischen Kräften in Bulgarien. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Nschdeh dadurch interessant für das deutsche Militär. Er unterstützte dieses 1942/43 bei der Formierung von armenischen Freiwilligenverbänden aus sowjetischen Kriegsgefangenen. Als kurzzeitig im Sommer 1942 in Erwägung gezogen wurde, gemeinsam mit Bulgarien einen Angriff gegen die Türkei durchzuführen, um den Kaukasus von Süden her anzugreifen oder ggf. den Nahen Osten unter Kontrolle zu bekommen (Operation Gertrud), sollten diese armenischen Freiwilligen Anschläge in der Türkei organisieren. Diese vage Idee kam allerdings angesichts der militärischen Wende auf dem sowjetischen und nordafrikanischen Kriegsschauplatz nicht über Vorüberlegungen hinaus.18 Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Nschdeh in sowjetische Gefangenschaft und starb 1955 als „faschistischer Kollaborateur“ in einem der dortigen Straflager.
Sowohl im Zweiten Balkankrieg als auch im Ersten Weltkrieg gehörte Bulgarien zu den Verliererstaaten. Auch die armenische Bevölkerung des Landes zahlte dabei einen hohen Blutzoll und sah sich nach 1919 von der schweren wirtschaftlichen Krise betroffen. Gleichzeitig nahm der Umfang der armenischen Gemeinde während des Genozids an der armenischen Bevölkerung im jungtürkischen Staat 1915–1918, dem griechisch-türkischen Krieg 1919–1923 bzw. infolge des Scheiterns der ersten, kurzlebigen armenischen Republik 1920 zu. Anfang der 1920er-Jahre flüchteten geschätzt rund 22.000 Armenier nach Bulgarien. Dabei handelte es sich oft um verarmte und nicht selten schwer traumatisierte Geflüchtete. Für Bulgarien war dies allerdings nur eine weitere Gruppe neben der großen Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen, die ab 1919 ins Land kamen und es vor immense soziale und wirtschaftliche Integrationsprobleme stellte.
Bulgarien 1919–1944 – eine Blütezeit für die Armenier?
Trotz aller Probleme gelang es aber mehreren Armeniern im Laufe der 1920er- und 1930er-Jahre, sich eine wichtige Stellung im Handel, Finanzsektor und Unternehmertum zu erarbeiten. Insbesondere aus den Reihen der Geflüchteten kamen mitunter wertvolle wirtschaftliche und künstlerische Impulse. Dazu zählten neue Methoden in der Tabakverarbeitung oder Textilherstellung, wovon die gesamte bulgarische Wirtschaft profitierte. Aber auch im künstlerischen Spektrum waren Einflüsse der armenischen Einwanderer spürbar, beispielsweise in Gestalt kleiner armenischer Theater- und Tanzgruppen sowie einer zunehmenden armenischen Verlegertätigkeit mit den Zentren Russe, Sofia, Plowdiw, Warna und Šumen.19 Einflüsse kamen auch seitens der im Dezember 1918 in Istanbul gegründeten Armenischen Allgemeinen Union der Körperkultur (abgekürzt „Homenetmen“), die an Entwicklungen europäischer Jugendorganisationen wie der britischen Pfadfinder oder den deutschen Wandervögeln anknüpfte. Von ihr ausgehend entstanden ab 1924 beispielsweise in mehreren bulgarischen Städten armenische Pfadfindergruppen und Sportvereine. 1926 erreichte die armenische Bevölkerung Bulgariens mit ca. 37.000 ihren Höhepunkt. Größte armenische Kolonien waren zu diesem Zeitpunkt Plowdiw mit ca. 6.200, Warna mit etwa 4.200, Sofia mit rund 2.900 und Russe mit ungefähr 2.200 Armeniern.20 Die Zahl der Armenier schrumpfte jedoch bald wieder deutlich, da viele Migranten nach West- und Mitteleuropa bzw. nach Nordamerika weiterwanderten. Einige nutzten Bulgarien auch nur als Transitland nach Rumänien, wo die größte armenische Diaspora Südosteuropas der 1920er-Jahre entstand. 1934 zählte der bulgarische Zensus offiziell nur noch 26.000 Armenier, was 0,5% der Bevölkerung entsprach.
Festzuhalten bleibt, dass sich in den 1920er- und 1930er-Jahren eine kleine, aber spürbare armenische Mittelschicht in Bulgarien herausbildete. Dies machte sich u.a. in Gestalt einer zunehmenden Zahl aktiver Politiker bemerkbar, die kleinere armenische Parteien sowohl im konservativ-liberalen als auch im sozialistischen Spektrum gründeten. Noch deutlicher zeigte sich die armenische Mittelschicht in der Gründung von Handelsfirmen oder im Auftreten als Fabrikanten, was sich u.a. an den steigenden armenischen Kapitalanlagen in verschiedenen Banken nachweisen lässt.21 Einher ging dies mit einer Blüte des armenischen Schulwesens, welches auf private Spenden und die Erhebung von Schulgebühren angewiesen war. Über wohlhabende armenische Mäzene verfügten Städte wie Burgas, Russe, Warna, Sofia und Plowdiw. Dort entstandene Schulen orientierten sich nach dem Vorbild des staatlichen siebenjährigen Schulwesens. In kleineren Gemeinden konnten nur vierjährige armenische Grundschulen finanziert werden. Alle armenischen Schulen unterrichteten nur ausgewählte Fächer wie Geschichte oder Geografie in armenischer Sprache, die übrigen wurden in Bulgarisch abgehalten. Möglichkeiten für eine weiterführende Schulbildung entstanden 1922 mit einer ersten armenischen Sekundarschule in Sofia und eine weitere 1928 mit Hilfe des katholischen Mekhitaristenorden in Plowdiw.22 Man könnte diese Zeit auch als Blütezeit der armenischen Diaspora in Bulgarien bezeichnen.
Minderheiten in der Volksrepublik Bulgarien
Die Haltung der armenischen Bevölkerung zur autoritären Königsdiktatur von Boris III. und deren Kollaboration mit dem Deutschen Reich ist bislang nicht erforscht. Unbestritten ist jedoch, dass der linksgerichtete Umsturz 1944 und die Etablierung des sozialistischen Regimes in den Nachfolgejahren tiefgreifende Folgen für die bulgarischen Armenier hatte. Viele wählten die Emigration nach Westeuropa bzw. nach Übersee. 1946 wurden auch Armenier zwangsweise in die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik (SSR) deportiert.
Für die Mehrheit der verbliebenen armenischen Bevölkerung verschlechterten sich die Lebensbedingungen bald schon sehr deutlich. Anfangs blieben die armenischen Schulen noch bestehen, wurden jedoch nach kurzer Zeit zwangsweise in staatlichen Besitz überführt. Dies hatte zur Folge, dass ihre Finanzierung nunmehr von der jeweiligen Gemeindeverwaltung übernommen wurde, was nicht selten eine Verschlechterung der Mittel zur Folge hatte. Einschneidender war jedoch die 1946 erfolgte Umstellung der armenischsprachigen Unterrichtsstunden. Dort wurde nun von der sozialistischen Regierung das bisher verwendete Westarmenisch durch das, in der SSR Armenien gesprochene Ostarmenisch ersetzt. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Schulbücher ausgetauscht, da diese aus Sicht der sozialistischen Regierung zu „bürgerlich“ waren. Diese Veränderungen wurden von vielen Armeniern abgelehnt und bald schon sanken die Schülerzahlen an den armenischen Schulen deutlich.23 Das Ende des armenischen Schulwesens in Bulgarien kam 1961, als nahezu alle Schulen von der Regierung geschlossen wurden. Übrig blieb zunächst eine armenische Grundschule in Plowdiw, die aber 1976 ebenfalls – ungeachtet eines öffentlichen Protests der armenischen Plowdiwer Gemeinde – ihren Lehrbetrieb einstellen musste. Unterricht in armenischer Sprache war fortan nur noch in Form von Zusatzkursen möglich. Derartige Angebote fanden jedoch nach dem regulären staatlichen Schulbetrieb statt und waren entsprechend bei den Lernenden unbeliebt. Die Zahl jener, die die armenischsprachigen Kurse besuchten, sank entsprechend kontinuierlich. Dies führte zwangsläufig dazu, dass Generationen von Schülerinnen und Schülern heranwuchsen, die immer weniger Armenisch in Wort und Schrift erlernten und entsprechend von der spezifischen armenischen Identität entfremdet wurden. Ein weiterer Schritt zur Homogenisierung der Gesellschaft im Sinne der sozialistischen Führung war die zwangsweise Zusammenführung armenischer Vereine und Organisationen unter einer, vom Staat bzw. durch die Bulgarische Kommunistische Partei kontrollierte Dachorganisation, dem Jerewan Kulturbund. Armenische Parteien und Zeitungsredaktionen hatten bereits in der Frühphase der Volksrepublik ihre Tätigkeiten einstellen müssen. Angesichts dieser Entwicklungen in den ersten beiden Jahrzehnten der Volksrepublik Bulgarien nahm die Zahl der armenischen Bevölkerung weiter ab und betrug in den 1950er- und 1960er-Jahren weniger als 22.000.24 Interessant ist, dass es während der gesamten sozialistischen Ära, von wenigen informellen Beziehungen abgesehen, keine direkten Kontakte zwischen den armenischen Gemeinden in den Ostblockstaaten wie z. B. Bulgarien zur armenischen Teilrepublik der UdSSR gab.
Zumindest auf dem Papier gab es einige Veränderungen, als 1971 die erste sozialistische Verfassung von 1947 durch eine neue abgelöst wurde. Darin wurde in Kapitel III Artikel 35 (4) das Prinzip der völligen Gleichheit aller Bürger theoretisch festgeschrieben und somit staatlich garantiert. Auch wurden grundsätzlich alle Vorrechte oder Beschränkungen auf Grund des Geschlechts, der „Rasse“ und Herkunft oder der Religion als unzulässig erklärt. Dies bedeutete aber, dass damit ein spezifischer Minderheitenschutz ausgeschlossen wurde.25 Eine Ausnahme bildete das Recht, die eigene Sprache erlernen zu dürfen. In Artikel 45 (7) heißt es, dass Bürger nichtbulgarischer Abstammung das Recht hätten, neben dem obligatorischen Erlernen der bulgarischen Sprache auch ihre eigene Minderheiten-Sprache zu erlernen. Dieses Recht wurde jedoch, wie erwähnt, entsprechend unattraktiv gestaltet.
Nichtsdestotrotz prägten Angehörige der kleinen armenischen Minderheit nicht unerheblich das Außenbild der sozialistischen Volksrepublik mit. International bekannt wurde z. B. der Gewichtsheber und Olympiasieger Norair Nurikjan und die bulgarisch-armenische Tennisdynastie Berberjan. Aber auch in anderen Sportarten, im Kulturbereich, in der höheren Staatsverwaltung sowie im publizistisch-journalistischen Spektrum waren gegen Ende der bulgarischen Volksrepublik überproportional viele bulgarische Armenier zu finden. Hierzu zählen u.a. der Theaterregisseur Krikor Stepan Azaryan (1934–2009) oder der Jazzpianist und -komponist Vili Kazasyan (1934–2008).
Die armenisch-apostolische Kirche in der Zeit der sozialistischen Herrschaft
Die drastischen Veränderungen infolge des Einbezugs Bulgariens in den sowjetischen Machtbereich hatte nicht nur im Schulwesen nachhaltige Auswirkungen. Mindestens ebenso gravierend war der sehr bald sehr schnell wachsende Druck auf die kleine armenisch-apostolische Kirche.
Bis zum Untergang des Osmanischen Reiches unterstanden die armenisch-apostolischen Kirchgemeinden dem armenischen Patriarchat von Konstantinopel. Bereits während des Ersten Weltkrieges, 1916, wurde das Patriarchat aber von der jungtürkischen Regierung aufgelöst. Der amtsenthobene Patriarch Zaven Der Yeghiayan kehrte zwar 1919 kurzzeitig in sein Amt zurück, emigrierte aber unter Druck der nunmehr kemalistischen Regierung 1922 nach Bulgarien und später nach Bagdad. In dieser Zeit übernahm als neuer Erzbischof Stepanos Howagimian die Leitung der armenisch-apostolischen Diözesenführung in Bulgarien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die bulgarischen Gemeinden dem rumänischen Diözesenbischof Wasgen unterstellt. Als dieser 1955 neuer Katholikos der armenisch-apostolischen Kirche wurde, blieb die Diözesenverwaltung sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien zunächst vakant. Erst 1960 übernahm in Gestalt des vergleichsweise jungen, 1930 in Beirut geborenen Primas der armenischen Diözese in Aserbaidschan, Dirayr Mardigian, die Leitung der beiden Diözesen Bulgarien und Rumänien.
In der Sowjetunion hatte die armenisch-apostolische Kirche lange Zeit unter erheblichen Repressalien zu leiden.26 Erst unter Katholikos Georg IV. gelang es ihr während der späten stalinistischen Zeit die Beziehungen zur Sowjetregierung schrittweise etwas zu entspannen. Diese Entwicklung setzte sich auch nach 1955 unter seinem bereits erwähnten Nachfolger Wasgen I. aus der Doppel-Diözese Rumänien-Bulgarien fort. Nichtsdestotrotz standen die armenischen Diözesen im sowjetischen Machtbereich unter spürbarem Druck. Dies traf auch auf die armenisch-apostolische Kirche in Bulgarien zu. Zwar wurde es ihr erlaubt, ihre Gemeindearbeit fortzusetzen, doch wurden ihre Handlungsspielräume mehr und mehr eingeschränkt. Dies geschah – parallel zur bulgarisch-orthodoxen Kirche – nicht zuletzt durch Entzug fast sämtlicher finanzieller Einnahmequellen. Phasenweise reduzierte sich das Einkommen auf den Erlös von Verkäufen eigener Waren wie Kerzen oder Ikonen an die schrumpfende Zahl der Gläubigen. Auch die traditionellen Vorrechte der Kirche in administrativen Fragen,wie die Registrierung von Geburten, Todesfällen oder Eheschließungen wurden nach und nach entzogen und fortan von den lokalen Behörden des sozialistischen Staates übernommen.27 Ein nicht minder folgenreicher Schlag war das vorgenommene Verbot des schulischen Religionsunterrichts. In den Städten Pazardjik, Sliwen und Stara Zagora wurden die dortigen armenischen Kirchen abgerissen, um Platz für die sozialistischen Stadtentwicklungspläne zu schaffen. Diese Gemeinden verloren damit ihre Gebetshäuser. Auch fehlte es seit den 1960er-Jahren immer mehr an Priesternachwuchs. Zeitweise konnten kleinere Gemeinden wie jene in Šumen, Dobrič oder Silistra nicht durch priesterliche Seelsorger betreut werden.
Auch wenn es bis heute ein wissenschaftliches Desiderat ist, muss davon ausgegangen werden, dass auch die armenisch-apostolische Kirche in ihrer Gesamtorganisation vom bulgarischen Geheimdienst frühzeitig infiltriert wurde.28 Wie auch in den anderen Glaubensgemeinschaften nahmen auf diese Weise die Religiosität und die kirchlichen Aktivitäten der armenischen Gläubigen im Laufe der vier Jahrzehnte sozialistischer Herrschaft und deren atheistischen Politik spürbar ab. Dies trug zusätzlich zur Zurückdrängung armenischer Identitätsgefühle der nachwachsenden Generationen der bulgarischen Armenier bei. Bis zum Ende der Volksrepublik Bulgarien schrumpfte der Anteil der armenischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung auf 0,2%.
Das Ende des Sozialismus und die Gründung einer demokratischen Republik ohne nationale Minderheiten
Im Winter 1989/90 wurde das bisherige sozialistische Regime in einer “samtenen Revolution“ gestürzt. 1991 wurde die neue Verfassung der Republik Bulgarien erlassen. Aus Perspektive der nationalen Minderheiten bedeutete die Verfassung aber nur eingeschränkt eine Verbesserung. Genau genommen wurden Minderheiten verfassungsrechtlich als nicht existent erklärt, da in ihr mit keinem Wort nationale Minderheiten erwähnt sind. Es wird bis heute lediglich in Artikel 36 (II) die Formulierung verwendet, „Bürger deren Muttersprache nicht Bulgarisch ist“.29 Später wurden zwar vom bulgarischen Staat mehrere internationale Abkommen zum breiten Spektrum des Minderheitenschutzes unterzeichnet, doch blieb die Situation der meisten nationalen Minderheiten im Land prekär. Grundsätzlich ausgeschlossen wurde die Gründung von Parteien auf nationaler Basis. Ein Recht auf Berücksichtigung im nationalen Fernsehen oder Rundfunk, zum Beispiel in Gestalt von Sendungen in der jeweiligen Minderheitensprache, wurde nicht gewährt.
In der Praxis entwickelte sich ein unterschiedlicher Umgang mit den einzelnen Minderheiten. Einige, wie die große türkische Minorität, oder jene, die auf größere Unterstützung aus dem Ausland rechnen konnten, wie die kleine jüdische Bevölkerungsgruppe, wurden indirekt anerkannt. Dazu zählten auch die Armenier. Theoretisch wurde es nationalen Minderheiten erlaubt, in Gerichtsverfahren einen Dolmetscher gestellt zu bekommen. Dies wurde jedoch oft nicht umgesetzt, sei es aus fehlendem Willen, sei es aus Mangel an den nötigen, vor Gericht zugelassenen Dolmetschern. Dies betraf auch den Umgang mit Behörden. Anders als etwa die Roma oder Aromunen erlebten hier Armenier allerdings wesentlich seltener diskriminierende Erfahrungen. Ohnehin sprach die jüngere armenische Generation in Bulgarien mittlerweile nicht selten Bulgarisch besser als Armenisch. Die Bulgarisierung durch die sozialistische Bildungspolitik war diesbezüglich spürbar erfolgreich gewesen.
Im neuen Schulgesetz wurde theoretisch allen nationalen Minderheiten zugesichert, in den ersten acht Schuljahren bzw. ab 1999 bis zur 12. Klasse, die eigene Sprache erlernen zu können. Voraussetzung wurde jedoch, dass solche Klassen mit Kursen in der jeweiligen Muttersprache mindestens acht Schüler umfassen.30 Die Probleme glichen damit jenen der sozialistischen Zeit. Wenn Unterrichtsstunden in armenischer Sprache angeboten wurden, fanden diese in der Regel zu unbequemen Zeiten am Nachmittag statt. Es bestand ein gravierender Mangel an ausgebildeten Lehrkräften für armenischsprachigen Unterricht und es fehlte an entsprechendem Unterrichtsmaterial. Der armenischen Minderheit kam mittelfristig zugute, dass sie Unterstützung seitens ausländischer Organisationen oder einzelner Förderer der armenischen Diaspora erhielt. Dazu zählte auch die Wiederbelebung der Kultur- und Jugendarbeit. Die in der Anfangszeit der 1990er-Jahre in erster Linie in Plowdiw und Sofia gegründeten neuen armenischen Jugend-, Studenten- und Kulturorganisationen gingen zwar in erster Linie auf die Initiative ehemals regimetreuer sozialistischer Kader zurück und erlangten daher nur bedingt Verbreitung, ab Mitte der 1990er-Jahre machte sich jedoch immer stärker die Hilfe aus der armenischen Diaspora Westeuropas und Nordamerikas bemerkbar. Zu den frühen Unterstützern zählte die 1970 in den USA gegründete Hamzkayin Cultural Association, die in ihren Ursprüngen auf eine 1928 in Kairo gegründete armenische Hilfsorganisation zurückgeht. Es gab aber auch Förderung durch populäre Einzelpersonen, wie des armenisch-kanadischen Sängers George Tutunjian (1930–2006).
Eine weitere Institution, die bereits früh in Erscheinung trat, war das 1926 gegründete Melkonische Bildungsinstitut im zypriotischen Nikosia. Von dort konnten mittelfristig erste Armenischlehrkräfte gewonnen werden. Auch nahm das Institut 60 bis 70 armenische Kinder aus Bulgarien zur Ausbildung auf, was jedoch in Anbetracht des großen Nachhol- und Wiederaufbaubedarfs im Bildungswesen kaum mehr als ein erster Anfang sein konnte, um den immer größeren Bedeutungsverlust des Armenischen in Bulgarien zu stoppen.31 Spürbare erste Schritte zur Besserung gelangen erst, als 1995 die Sofioter Universität das Bachelor-Studienfach der Armenisch- und Kaukasusstudien an der Philologischen Fakultät mit Schwerpunkt armenische Literatur und Kultur einführte, was langfristig die Ausbildung nötiger Fachkräfte für armenische Sprache ermöglichte.32 Für den Bedarf an armenischsprachigen Unterrichtsmaterial musste indes noch viele Jahre auf gespendete Lehrwerke armenischer Gemeinden aus Syrien und dem Libanon zurückgegriffen werden. Weitere Lehrkräfte kamen aus der unabhängig gewordenen Republik Armenien. Auch nach 1990 blieb Plowdiw das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Armenier in Bulgarien. Dort wurde im September 1990 die 1976 geschlossene erste armenische Schule mit zunächst 276 Schülern und 28 Pädagogen wiederbegründet und nach dem Stiftungspaar der 1940er-Jahre Victoria- und Krikor-Tutunjian-Schule benannt. Weitere armenischsprachige Schulklassen wurden später an einzelnen Schulen in Warna, Sofia, Burgas und Silistra eingerichtet.
Als kleine Minderheit konnten die Armenier von Anfang an kaum auf eine Berücksichtigung des Armenischen im staatlichen Fernsehen und Rundfunk hoffen. Verhältnismäßig positiv, vergleicht man die Entwicklung mit anderen kleineren Minderheiten in Bulgarien, entwickelte sich aber auf der nichtstaatlichen Ebene ein durchaus gut frequentiertes armenisches Pressewesen. Bereits 1991 erschien in Plowdiw die erste neue armenischsprachige Zeitung (Wahan). Später folgte die Zeitung Armenzi in Burgas sowie die Wochenzeitung EreWan aus Sofia.33 Nach der Jahrtausendwende kamen mehrere armenischsprachige Internetportale wie beispielsweise Parev.net hinzu.
Identitätsfragen, die armenische Kirche und armenische Zuwanderung
Die „Bulgarisierungspolitik“ in den Jahrzehnten vor 1990 hatte tiefe Spuren in der armenischen Minderheit hinterlassen. Besonders in den 1960er- und 1970er-Jahrgängen assimilierten sich junge Armenier zunehmend, fühlten sich immer stärker primär als Bulgaren und kannten die armenische Sprache und Kultur nur noch aus dem engsten Familienkreis. Ehen zwischen Armeniern und Bulgaren waren keine Seltenheit mehr. Als 1992 die Republik Bulgarien eine erste Volkszählung vornahm, erklärten sich lediglich noch rund 13.700 Menschen als Armenier.34 Dies war neben den Assimilierungsprozessen auch durch die durchaus spürbare Auswanderung von Armeniern ab 1990 zu erklären.
Die langsame Wiederbelebung des armenischen Schulwesens, vor allem aber das Wirken der armenisch-apostolischen Kirche bremsten nach 1990 zumindest teilweise diese Entwicklung. Dank einer 1993/94 vom bulgarischen Staat erlassene Rückgabegesetzgebung wurden der Kirche viele enteignete Immobilien und Grundstücke zurückgegeben. Unter sozialistischer Herrschaft zerstörte Kirchen konnten nach und nach, auch dank Spenden aus dem Ausland, durch Neubauten ersetzt werden. Dazu zählte zum Beispiel die 2011 eingeweihte armenische Kirche in Pazardžik. 2006 begann der Bau einer neuen armenischen Kathedrale im traditionell armenischen Stil nach Plänen des bulgarisch-armenischen Architekten Agop Karakshian.35 Gegenwärtig [Stand 2025] verfügt die armenisch-apostolische Kirche in ganz Bulgarien wieder über elf Kirchen und vier Kapellen. 2010 starb der langjährige Erzbischof Dirayr Mardigian. An seine Stelle trat der im Irak geborene Datew Hagopian. Ein Jahr später wurde die ursprünglich unabhängige armenische Diözese in Bulgarien wieder hergestellt. Neben der armenisch-apostolischen Kirche existieren heute auch fünf armenisch-protestantische Kirchgemeinden.36 Es kann also aus heutiger Perspektive von einer deutlichen Wiederbelebung des armenisch-religiösen Lebens in Bulgarien gesprochen werden.
Während die schrumpfenden Gemeinden mit Identitätsfragen zu kämpfen hatten, entstanden zusätzliche Reibeflächen durch die Einwanderung von Armeniern. Nach dem Zerfall der UdSSR und dem armenisch-aserbaidschanischen Bergkarabach-Konflikt, wurde Bulgarien in den 1990er-Jahren für mehrere Zehntausend Armenier eine wichtige Durchgangsstation in Richtung Westeuropa und Nordamerika. Nicht wenige blieben einige Zeit, einige wenige dauerhaft. Die Neueinwanderer sprachen allerdings den ostanatolischen Dialekt des Armenischen, während die bulgarischen Armenier trotz sozialistischer Schulpolitik weiterhin am westarmenischen Dialekt festhielten. Generell war diese Einwanderung insofern nicht unproblematisch, als die Migranten angesichts der dramatischen Wirtschaftskrise im postsozialistischen Bulgarien Konkurrenten im täglichen Überleben auf dem Arbeitsmarkt waren. Erleichtert wurde diese Situation jedoch dadurch, dass sich der bulgarische Staat sehr früh um gute Beziehungen zur Republik Armenien bemühte, was sich auch durch die gemeinsame Distanz zur Türkei erklären lässt. Bereits 1992, wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung Armeniens am 21. September 1991 nahmen beide Staaten diplomatische Beziehungen auf. Neben einer armenischen Botschaft in Sofia wurden anfangs auch armenische Konsulate in Warna und Plowdiw eingerichtet. Eine bulgarische Botschaft in Jerewan wurde 1999 eröffnet. Spätestens seit der Jahrtausendwende entwickeln sich zunehmend intensivere diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen Bulgarien und Armenien. Beispielsweise erfreut sich die bulgarische Schwarzmeerküste einer immer größeren Beliebtheit bei Touristen aus der Republik Armenien. Auch wenn die persönlichen Beziehungen der armenischen Bevölkerung Bulgariens zu Armenien keine unmittelbar große Bedeutung erlangte, so wirkte diese vertiefenden Beziehungen der beiden Staaten doch auf die Minderheit der bulgarischen Armenier zurück.
Natürlich ging die allgemeine Auswanderungsbewegung, die die bulgarische Gesamtbevölkerung seit dem Ende der Volksrepublik von rund 8,5 auf kaum mehr als 6,5 Millionen Einwohnern 2022 sinken ließ, nicht spurlos an der armenischen Minderheit vorüber. Zur Volkszählung 2001 ließen sich noch 10.832 Menschen als Armenier registrieren (0,14%). Davon lebten 3.140 in der Provinz Plowdiw, 2.240 in der Provinz Warna, 1.672 in Sofia und 904 in der Provinz in Burgas.37 In der Volkszählung von 2011 wurden nur noch 6.552 (0,09%) gezählt.38 Wie viele Menschen sich dabei als ethnische Bulgaren registrierten, sich aber trotzdem als Armenier empfinden, ist ein Feld großer Spekulationen. In jedem Fall sind bulgarischen Armenier im öffentlichen Leben präsent, sei es in Gestalt von Sportlern wie dem zeitweiligen Fußballnationalspieler Armen Ambartsumjan oder Künstlern wie dem Dirigenten Levon Manukjan und dem Filmproduzenten Margardič Halvadjan.
Eine große Bedeutung erlangte in den vergangenen Jahren das immer spannungsreichere Verhältnis Bulgariens mit der Türkei, gepaart mit einer zunehmend konservativ-nationalen Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Landschaft. Die konservative bulgarisch-orthodoxe Kirche gewann ein spürbares Maß an gesellschaftlichem Einfluss zurück. Nationalistische und rechtsextreme Bewegungen haben Zulauf. Unter dem konservativen Politiker Bojko Borissow kamen sogar rechtsnationalen Parteien mit in die Regierung. Teil derer Außenpolitik war und ist eine distanzierte Politik gegenüber der türkischen Erdoğan-Regierung. Plakativ nahmen die Besuche hochrangiger bulgarischer Regierungsvertreter in Armenien zu. In einer Zeit, in der sich Bulgarien 2015/16 angesichts einer zunehmenden Migration und steigender Flüchtlingszahlen aus dem Nahen Osten gegenübersah, präsentiert sich die damalige Borissow-Regierung gerne als (christlich-abendländischer) „Frontstaat“ Europas. Teil dieser politisch-gesellschaftlichen Entwicklung war die konfrontative Anerkennung des Armenier-Genozids im April 2015 und die Förderung einer entsprechenden Gedenkkultur, was 2016 zu starken diplomatischen Verstimmungen mit der Türkei führte.39
Heute sind die Armenier in Bulgarien weiterhin eine kleine, immer wieder von Auswanderung und Assimilation bedrohte Minderheit. Diese ist aber ebenso seit über einem Jahrtausend ein wahrnehmbarer Bestandteil der bulgarischen Gesellschaft. Inwieweit die armenische Gemeinde infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine seit 2022 geflüchtete ukrainische Armenier aufnahm, ist noch nicht bekannt.
- Garo Mardirosjan: Koj koj e v armenskata obštnost v Bălgarija? [Wer gehört der armenischen Gemeinde in Bulgarien an?] Sofija 2002; Evgenija Georgieva Miceva: Armencite v Bălgarija. Kultura i identičnost. [Armenier in Bulgarien. Kultur und Identität] Sofija: Mezhdunar 2001; Sarkis Sarkisjan (Hg.): Armenskata duchovnost. Meždunarodna naučna konferencija. [Armenische Geistlichkeit. Internationale wissenschaftliche Konferenz]. Sofija: Iztok-Zapad 2010; Donka Săbotinova: Koleloto na života. Semejni i običai na bălgari, armeni, rusi staroobredci, turci i cigani/roma [Das Rad des Lebens. Sitten und Gebräuche von Bulgaren, Armeniern, Russen, Türken und Zigeuner/Roma], Sofija: RITT 2015 und Siranush Papazian-Tanielian: The community life of Armenians in post-socialist Bulgaria. In: Konrad Siekierski, Stefan Troebst (Hgg.): Armenians in Post-Socialist Europe, Köln 2016, S. 193–204. ↩︎
- Siehe dazu u.a. Garo Mardirosjan: Armenskata diaspora v Bălgarija [Armenische Diaspora in Bulgarien]. In: Armenskata duchovnost, S. 289–296, hier S. 289 und Siranush Papazian-Tanelian: The Community Life of Armenians in Post-Socialist Bulgaria, S. 193. ↩︎
- Papazian-Tanelian: The community life, S. 193f. ↩︎
- Siehe dazu u.a. Petăr Golijski: Bălgaro-armenskite vrăski prez X–XV. v. kato izjava na ličnosti. In: Armenskata duchovnost [Armenische Geistlichkeit], S. 168–190. ↩︎
- Nicolas Adontz: Samuel l’Arménien, Roi des Bulgares. Bruxelles 1938, S. 37. ↩︎
- Garo Mardirosjan: Armenskata diaspora v Bălgarija. In: Armenskata duchovnost meždunarodna naučna konferencija. Sofija Iztok-Zapad 2010, S. 289–296, hier S. 290f. ↩︎
- Agop Garabedjan: Prinosite na armencite v bălgarskite zemi [Die Beiträge der Armenier zur bulgarischen Erde]. In: Armenskata duchovnost, S. 43–70, hier S. 45–47. Zu den Schriften von Bischof Bakšev siehe Lilia Ilieva: The First Tractate on Bulgarian History Found: Petar Bogdan. On the Antiquity of the Father’s Land and on the Bulgarian Things. In: Balkanistic Forum. (2018) Vol. 16, S. 98–103. ↩︎
- Agop Garabedjan: Prinosite na armencite v bălgarskite zemi, S. 45. [Die Beiträge der Armenier zur bulgarischen Erde] ↩︎
- Nadežda Ivanova: Armenskata kolonija v Plovdiv i nejnata tsărkva „Surp Kevork“ [Die armenische Kolonie in Plovdiv und die neue Kirche „Surp Kevork“]: <http://old.omda.bg/studentski_forum/2007-2008/armentsite_v_plovdiv_nadejda.htm>, 01.02.2025. ↩︎
- Festrede zum 160. Jahrestag der ersten armenischen Schulgründung in Plovdiv 1994. <https://agbu.org/news-item/the-armenian-school-of-plovdiv-160-years-old-and-still-going-strong/>, 10.01.2025, Informationen anlässlich des 175. Jubiläums hat <http://www.plovdivguide.com/Nachrichten/-Armenian-school-in-Plovdiv—175-years-of–foundation-4029-de-DE72C6960A-5896-47A6-BD98-A41AEB6C7512>, 01.02.2023 sowie Informationen der Schulseite anlässlich des 180. Jubiläums <https//tutunjian.bg/gallery/>, 01.02.2021. ↩︎
- Louise Nalbandian: The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Armenian Political Parties throught the Nineteentrh Century. Berkeley 1963, S. 113 und 149. ↩︎
- Evgenija Miceva: Armencite v Bălgarija – Kultura i identičnost. Sofija 2001, S. 181. ↩︎
- Nachdem infolge der Jungtürkischen Revolution die osmanische Verfassung von 1876 wieder in Kraft gesetzt worden war, verzichteten viele armenische Revolutionsgruppen vorerst auf Gewalt und terroristische Anschläge. Andreas Oberender: Gegen Zar und Sultan. Armenischer Terrorismus vor dem Ersten Weltkrieg. In: Osteuropa, 66 (2016) H. 4, S. 49–62, S. 58. ↩︎
- Agop Garabedjan: Prinosite na armencite v bălgarskite zemi, S. 51 bzw. Zahlenangaben nach: <https://en.wikipedia.org/wiki/Demographics_of_Bulgaria#Ethnic_groups>, 31.01.2025. ↩︎
- Nalbandian: The Armenian Revolutionary Movement, S. 175 und Hratch Dasnabedian: History of the Armenian Revolutionary Federation Dashnaktstiun 1890/1894, Paris 1990, S. 59f. ↩︎
- Dasnabedian: History of the Armenian Revolutionary Federation Dashnaktstiun, S. 56. ↩︎
- Dasnabedian: History of the Armenian Revolutionary Federation Dashnaktstiun, S. 60. ↩︎
- John Keegan: MacNally Encyclopedia of World War II. Toronto 1977, S. 54. ↩︎
- Evgenija Miceva: Armencite v Bălgarija – Kultura i identičnost. S. 177, Papazian-Tanelian: The Community Life, S. 194 und Miceva, Papazân-Tanielân: Armencite razkazvat za sebe si, S. 436 und 490. ↩︎
- Agop Garabedjan: Prinosite na armencite v bălgarskite zemi, S. 51. ↩︎
- Agop Garabedjan: Prinosite na armencite v bălgarskite zemi, S. 53–55. ↩︎
- Papazian-Tanielian: The community life of Armenians in post-socialist Bulgaria 198f. ↩︎
- Papazian-Tanielian: The community life of Armenians in post-socialist Bulgaria, S. 199. ↩︎
- Garo Mardirosjan: Armenskata diaspora v Bălgarija. In: Armenskata duchovnost, S. 289–296, hier S. 292. ↩︎
- Verfassung der Volksrepublik Bulgarien vom 18. Mai 1971: <http://www.verfassungen.eu/bg/verf71-i.htm>, 31.01.2025. ↩︎
- Zur Situation der armenisch-apostolischen Kirche zur Sowjetzeit siehe u.a. Hacik Rafi Gazer: Die armenische Kirche in Sowjetarmenien zwischen den Weltkriegen. Anatomie einer Vernichtung. LIT Münster 2001. ↩︎
- Papazian-Tanielian: The community life of Armenians in post-socialist Bulgaria, S. 196. ↩︎
- Björn Opfer-Klinger: Die bulgarische Staatssicherheit vom Kalten Krieg bis zur gescheiterten Vergangenheitsbewältigung. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 22 (2010) H. 1/2, S. 90–110, hier: S. 94f. ↩︎
- Verfassung der Republik Bulgarien vom 12. Juli 1991: <http://www.verfassungen.eu/bg/verf91-i.htm>, 31.01.2025. ↩︎
- Christoph Pan: Die Minderheitenrechte in Bulgarien. In: Christoph Pan, Beate Sibylle Pfeil (Hgg.): Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen. Bd. 2. Wien 2002, S. 64–74, hier: S. 70. ↩︎
- Miceva/Papazan-Tanielan 2007, S. 392–397. ↩︎
- Papazian-Tanielian: The community life of Armenians in post-socialist Bulgaria, S. 200. ↩︎
- Miceva: Armencite v Bălgarija, S. 182. ↩︎
- Garo Mardirosjan: Armenskata diaspora v Bălgarija. In: Armenskata duchovnost, S. 289–296, hier: S. 292. ↩︎
- Papazian-Tanielian: The community life of Armenians in post-socialist Bulgaria, S. 196f. ↩︎
- Vahram Hoyan: Armenian Angelical Community in Bulgaria (26.07.2010): <http://noravank.am/eng/issues/detail.php?ELEMENT_ID=4961> bzw. die Website der armenisch-evangelischen Kirche in Bulgarien mit Sitz in Plovdiv: <http://eca.am/>, 02.02.2025. ↩︎
- Angaben des nationalen statistischen Instituts zur Volkszählung 2001, <https://www.nsi.bg/Census/Ethnos.htm>, 15.01.2023. ↩︎
- Angaben des nationalen statistischen Instituts zur Volkszählung 2011 <https://web.archive.org/web/20170530153208/>, 01.05.2022, <http://censusresults.nsi.bg/Census/Reports/1/2/R7.aspx>, 01.08.2022. ↩︎
- Armenian Genocide in Bulgarian Parliament (03.19.2010): <https://www.turkishnews.com/en/content/2010/03/21/armenian-genocide-motion-to-be-considered-in-bulgarian-parliament/>, 01.02.2025. Auf lokaler Ebene hatte beispielsweise bereits 2008 die Stadt Burgas in einer Erklärung des Stadtparlamentes den Genozid anerkannt, damals auf Betreiben der dortigen Fraktion der rechtsnationalen Partei ATAKA. Siehe u.a. Turski natisk sreschtu bălgarski obschtini zaradi armenskija genozid (14.03.2016): <https://btvnovinite.bg/bulgaria/politika/turski-natisk-sreshtu-balgarski-obshtini-zaradi-armenskija-genocid.html>, 01.02.2025; Georgi Gotev: Turkey blackmails Bulgarian municipalities over the Armenian genocide (15.03.2016): <https://www.euractiv.com/section/regional-policy/news/turkey-blackmails-bulgarian-municipalities-over-the-armenian-genocide/>, 01.02.2025. ↩︎