Andreas Pfützner: Die rumänisch-jüdische Frage. Die Entstehung einer europäischen Anomalie (ca. 1772–1870). Böhlau: Wien 2024. 684 S., 3 farbige Abbildungen.
Mit der als Dissertation verfassten Studie „Die rumänisch-jüdische Frage: Europäische Perspektiven auf die Entstehung einer Anomalie (ca.1772–1870)“ hat der Historiker und Politikwissenschaftler Andreas Pfützner ein Thema gewählt, das bislang aus sehr unterschiedlichen Perspektiven mit völlig divergierenden Motivationen heraus behandelt wurde: Einerseits vonseiten der jüdischen Emanzipationsbewegung in Europa. Deren Hauptanliegen war es verständlicherweise, die Fehlentwicklungen im Rahmen der rumänischen Nationalstaatswerdung aufzuzeigen und nachzuweisen, dass die jüdische Bevölkerung bereits in den rumänischen Protostaaten, den Fürstentümern Moldau und Walachei, einen originären Beitrag zur Modernisierung des Landes geleistet hatte. Entsprechend könne sie nicht als „Fremde“ in diesen Gesellschaften gelten. Und andererseits vonseiten der rumänischen Nationalhistoriographie, die mitunter – implizit und explizit – das Gegenteil zu beweisen versuchte. Im jeweiligen Trend der Epoche liegend, zeichnete sie dabei mittels Falschgewichtungen sozialer, gruppenbezogener Prozesse das Bild einer Nation, in dem zumindest in der ersten Reihe lediglich der orthodoxe Rumäne vorkommen durfte. Alle anderen Gruppen seien auszuschließen – insbesondere die Juden, die zum Inbegriff des Fremden, Schädlichen, Zersetzenden stilisiert wurden.
Die rumänisch-jüdische Frage wird insbesondere nach 1830 virulent und gipfelt im Art. 7 der ersten rumänischen Verfassung von 1866, die von der Geschichtsschreibung gerne als besonders modern bezeichnet wird. Dort heißt es, dass nur Fremde christlicherKonfession die Staatsbürgerschaft erhalten könnten. Juden, auch jene, die bereits lange auf dem Staatsgebiet wohnten, wurden also dauerhaft aus dem rumänischen Staatsbürgerverband ausgeschlossen. Zur Anomalie wird diese Entwicklung einerseits durch eine Heterodoxie und anderseits durch eine Paradoxie: Erstens stellte sich der selbst nach nationaler Emanzipation vom osmanischen Imperium strebende Staat mit dieser Regelung gegen den allgemeinen Trend. Man nahm also Rückschläge bei der eigentlich unbedingt angestrebten europäischen Integration in Kauf, um anderen, endogenen Dynamiken der Macht zu folgen. Das Paradoxe an dieser Entwicklung ist zweitens die Tatsache, dass es die liberale – im damaligen Duktus auch ‚linke‘ – Politik war, die aus der leider üblichen Banalität antijüdischer Diskurse und Praktiken erst die antisemitische Gretchenfrage der rumänischen Nation machte.
Die Mehrheit der Juden lebte in der Moldau. Dort wurden sie insbesondere von den alten konservativen Eliten, in deren Umfeld sie oft tätig waren, über viele Jahrzehnte als Modernisierer willkommen geheißen. Um diese alten Eliten zu verdrängen, betrieben die vermeintlich liberalen Kleinbojaren nun massive antijüdische Propaganda. Liberalismus im Rumänien des 19. Jahrhunderts war also nicht, wie wir es erwarten würden, mit der jüdischen Emanzipation verbunden, sondern mit einem radikalen, utilitaristischen Antisemitismus. Während die europäische Epoche der ideologisch motivierten Massenpolitik in der Regel mit den 1880er-Jahren angesetzt wird, belegt die Studie, dass hier schon früher auf eine Massenmobilisierung gesetzt wurde, um über das Vehikel des Judenhasses die Hegemonie im Staat zu erlangen. Wir haben es also mit einem Volkspopulismus avant la lettre zu tun.
In der Studie wird deutlich, warum diese Mechanismen auch über den Rumänien-Diskurs hinaus aktuell und bekannt erscheinen, und es sich in diesem konkreten Fall trotzdem um eine Anomalie der europäischen Geschichte handelt. Dafür taucht der Verfasser tief in die Vorgeschichte des rumänischen Staates ein und rückt die Entwicklung der rumänisch-jüdischen Frage in den Vordergrund. Dies tut er unter Einbeziehung der vorliegenden Literatur, jedoch ohne sich von den jeweiligen Einseitigkeiten der älteren Studien oder den forschungskonjunkturbedingten Fragen und Antworten der neueren Untersuchungen verführen zu lassen. Vielmehr greift die Dissertation auf eine große Menge an rumänischen und internationalen Archivmaterialien zurück. Diese versetzen den Autor in die Lage, seine Argumente eigenständig und überzeugend vorzubringen, und dies in klarer, gut lesbarer und zuweilen sogar unterhaltsamer Wissenschaftsprosa. Die Einbettung in gesamteuropäische Zusammenhänge nimmt dabei speziell jene Leserinnen und Leser bei der Hand, die mit dieser Epoche und diesem Raum nicht so sehr vertraut sind, und ermöglicht in der Folge ein tieferes Eintauchen in die Materie.
Die Studie verweist somit auf drei Phänomene, die von langfristiger Bedeutung sind: 1. Populismus als Mittel, um politische Hegemonie zu erlangen; 2. die allseitige Politisierung von Migration und 3. das Radikalisierungspotential von Transformationsprozessen. Sie bietet die minutiöse Darstellung einer historischen Sonderentwicklung, die schon per se einen relevanten Beitrag zur Geschichte Südosteuropas leistet. Überdies bettet der Autor seine Studie sowohl in großräumliche wie diachrone Zusammenhänge ein und ermöglicht es, durch das Prisma eines regionalen Phänomens ein tieferes Verständnis für die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus zu entwickeln. Das Buch bietet somit eine überzeugende Erklärung für spezifische Entwicklungen in der Region, die ab der Zwischenkriegszeit eine neue Dimension erlangen und in der noch viel zu wenig bekannten Shoa im südöstlichen Europa enden werden. Das Buch wurde zu Recht mit dem Michael-Mitterauer-Förderungspreis und dem Nachwuchspreis des Österreichischen Staatspreises für Geschichtswissenschaften ausgezeichnet. Ihm ist die internationale Aufmerksamkeit zu wünschen, die es zweifellos verdient.
Florian Kühner-Wielach