Mădălina Diaconu: Ideengeschichte Rumäniens

Ideengeschichte Rumäniens, Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh 2021, 346 Seiten.

Die hier zu besprechende Publikation basiert auf einer Vortragsreihe der an der Universität Wien lehrenden Philosophin und Lektorin Mădălina Diaconu. 

Zunächst ist zu klären: Was meint „Ideengeschichte“ und was meint „Rumänien“ bzw. „Rumänisch“? 

Zum Begriff der „Ideengeschichte“: M. Diaconu definiert Ideengeschichte als Sozialgeschichte, die nicht nur „Texte“ als Primärquellen untersucht, sondern zugleich auch „die Bedingungen, unter denen Theorien entstanden, ebenso wie ihre Zirkulation und Rezeption“ (S. 2). Dabei ergibt sich die Frage, ob „Texte“ im engeren Sinne schriftlicher Dokumente zu verstehen sind oder z.B. im Sinne Derridas („Text ist alles“). Und: soll eine Ideengeschichte ausschließlich philosophische, politische oder literarische Texte umfassen oder auch Werke der bildenden oder darstellenden Kunst? Zu denken wäre hier z.B. an Constantin Brâncuşi mit seinen starken Bezügen zur rumänischen Folklore (z.B. die „Unendliche Säule“ oder der Zaubervogel „Pasărea Măiastră“), aber auch an Architektur, traditionelle und konzertante Musik, die oftmals auf überliefertes „Material“ zurückgreift (z.B. George Enescu in Sonaten, Quartetten und in seinen „Rumänischen Rhapsodien“). Auch das seit den 1920er Jahren an Bedeutung zunehmende Medium des Films ist zu bedenken. In allen genannten Feldern findet sich stets der Widerstreit zwischen „autochthonen“ und „westlich-urbanen“ Konzepten. M. Diaconu beantwortet die Frage nach den „Texten“ indirekt durch die Auswahl der präsentierten Autoren und Theorien. Mit beeindruckender Souveränität entfaltet M. Diaconu ein Panorama aus Philosophen, Literaten, Wissenschaftlern und Politikern. Bildende Künstler wie Constantin Brâncuşi werden dagegen nur am Rande erwähnt. 

Das dennoch weitgefasste Spektrum ordnet die Autorin einem Tableau von 12 Problemen zu, „die wiederum in einem spezifischen Kontext generiert wurden und deren Behandlung und Lösung sich nicht auf bloße Theorie beschränken kann“ (S. 2): 

  1. die (verspätete) Bildung der rumänischen Nation
  2. die Kontroverse um die lediglich „simulierte“ Modernisierung Rumäniens (insbes. zu Titu Maiorescus Theorie der „inhaltlosen Formen“ im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Kultur)
  3. Stadt und Land zwischen Ideologie und Politik
  4. Tradition und Moderne in den Transformationen der Zwischenkriegszeit
  5. die Frage des dakisch-lateinischen Ursprungs des rumänischen Volkes (Geschichte und Mythos des „Autochthonen“)
  6. Junge Intellektuelle der Zwischenkriegszeit als Protagonisten einer neuen nationalen Kultur Rumäniens (mit deren Perzeption außerhalb des Landes)
  7. Kulturelle Identitäten zwischen Balkan, orthodoxer Kirche (Osteuropa) und dem „Westen“
  8. Kulturpolitik im „kommunistischen“ Rumänien
  9. Identitätssuche nach dem Zusammenbruch des „kommunistischen“ Regimes 1989
  10. auf dem Weg nach „Europa“ (die Entwicklung nach 2000)
  11. Juden und Roma in Rumänien
  12. Ungarn und Deutsche in Rumänien.

Jedes dieser Kapitel spannt einen zeitlichen Bogen vom Beginn der Moderne in Rumänien, d.h. in Siebenbürgen seit dem 18. Jahrhundert, in den Fürstentümern der Walachei und Moldau seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart (2018). Womit zugleich ein weiterer Vorzug dieser Monographie benannt ist. Mit dem weiten historischen Radius verlässt M. Diaconu die häufige Zentrierung auf die immer wieder beschworene und glorifizierte intellektuelle Blüte der Zwischenkriegszeit Rumäniens, die in Wahrheit eher ein Projekt einer kleinen, zumeist (mittel- und west)„europäisch“ orientierten Elite war. 

Viele der behandelten Problemfelder weisen über Rumänien hinaus: sei es das Thema des (verspäteten) Nation building (Kap. 1) oder die in Osteuropa bis heute virulente Frage der „Identität“ der eigenen Nation zwischen Ost- und West- bzw. Mitteleuropa (Kap. 4, Kap. 6, Kap. 7). Gleiches gilt für den Dualismus zwischen Tradition und Moderne, versinnbildlicht im Spannungsverhältnis von Stadt und Land. Auch das Thema der nach 1918 in Osteuropa oftmals – durch externe Mächte – willkürlich gezogenen neuen Grenzen und der damit geschaffenen, nicht selten blutig ausgetragenen „Minderheitenfrage“ betrifft bis heute alle osteuropäischen Staaten. 

Im 8. Kapitel wiederum findet sich eine erhellende Entmystifizierung der Institution Zensur im „kommunistischen“ Rumänien, die nach ihrer offiziellen Aufhebung im Jahre 1977 dank vorauseilender Selbstzensur offenbar noch effektiver funktionierte als zuvor (S. 171-176). Im 9. und 10. Kapitel liefert M. Diaconu eine Analyse der – nicht nur in Rumänien – unabgeschlossenen Transformation und der damit verbundenen politischen, sozialen und kulturellen Konfliktlinien und Desillusionierung – und damit zugleich eine auf die meisten anderen osteuropäischen Staaten übertragbare Darstellung. Die beiden letzten Kapitel widmen sich den vier größten Minderheiten. Während Juden und Roma vor allem unter Aspekten der kulturellen Diskriminierung und politisch-sozialen Ausgrenzung besprochen werden, ist für die ungarisch- bzw. deutschsprachige Bevölkerung umgekehrt eine stabile Tendenz zu kultureller (und vielfach politischer) Abgrenzung und Autonomie kennzeichnend, die langfristig mit dem Verlust eines einstmals vielfältigen intellektuellen Lebens einhergeht: einerseits durch eine Politik der kulturellen Zwangs-Homogenisierung gegen Ungarn und Deutsche, andererseits durch die Abwanderung bedeutender Literaten (z.B. Oskar Pastior, Dieter Schlesak oder der „Aktionsgruppe Banat“). 

Diese nur kursorische Auflistung mag bereits verdeutlichen, dass eine „Ideengeschichte“ keineswegs ein intellektuelles Glasperlenspiel bedeutet, nämlich dann, wenn Theorien in politische Praxis umschlagen, wie z.B. bei dem Historiker und konservativen Politiker Nicolae Iorga oder bei der faschistischen „Eisernen Garde“ verbundenen Intellektuellen wie Emil Cioran, Mircea Eliade oder Constantin Noica. „Ideengeschichte“ bedeutet im postkommunistischen Rumänien auch, sich neben dem literarisch-kulturellen Leben dem wachsenden Populismus bei gleichzeitig zunehmender Dominanz politischer Parteien oder einzelner Akteure gegenüber der Legislative zu widmen – mitsamt einer gleichzeitigen Distanzierung, Ent-Politisierung oder Rechts-Politisierung der Wahlbevölkerung. Allesamt Kennzeichen einer Postdemokratie (Colin Crouch) – hier allerdings ohne eine vorausgegangene reale Demokratie. Gerade gegenwärtige populistische Bewegungen in Osteuropa leben von der ideologischen Aufladung der genannten realen oder imaginierten Probleme wie der  „Identität“ zwischen Ost und West oder einer „gesunden“ eigenen Tradition im Gegensatz zu einer fremden und dekadenten Moderne. Eine Aufladung, die sie rasch zu nationalistischer Radikalisierung treiben lässt, wenn sich die Bürger/-innen Osteuropas stets aufs Neue als Opfer und Benachteiligte der Geschichte empfinden (wollen). 

Zur zweiten Definition: Was meint „Rumänien“ bzw. „Rumänisch“? Angesichts der äußerst wechselvollen Geschichte dieses Landes kein leichtes Unterfangen. Zählen doch, je nach historischem Zeitpunkt und politischer Verfasstheit, die Fürstentümer der Walachei und Moldaus, Siebenbürgen/Transsylvanien und das Banat sowie weitere, ebenfalls die territoriale Zugehörigkeit mehrmals wechselnde Regionen wie die Bukowina oder Bessarabien hierzu. 

Und was meint in diesem Kontext „Rumänisch“? Sollen hierunter nur Zeugnisse in rumänischer Sprache verstanden werden oder auch Zeugnisse der zahlreichen in Rumänien lebenden Nationalitäten? Und die damit verbundene Frage: Was sind „rumänische“ Autoren? Nur diejenigen, die in Rumänien leben und publizieren, oder auch die zahlreichen freiwilligen oder unfreiwilligen Emigranten, die längst nur noch in anderen Sprachen schreiben (und vielleicht auch denken)? 

Die Frage, was unter „Rumänien“ zu verstehen sei, beantwortet M. Diaconu unausgesprochen im Sinne eines unabhängig von politischen Grenzen existierenden sprachlichen und kulturellen Raumes. So bezieht sie (in Kap. 1) die „Siebenbürgische Schule“ (Şcoala Ardeleană) in ihre Darstellung ein, obgleich sich diese intellektuelle Strömung seinerzeit außerhalb der rumänischen Fürstentümer, in der ungarischen Reichshälfte der k.u.k. Monarchie, entfaltete. Etwas anders entscheidet die Autorin bei der Frage, was „rumänische“ Ideengeschichte sei. Hierunter behandelt sie ausführlich auch in Rumänien geborene, aber im Ausland etablierte Autoren, die nur noch in anderen Sprachen publizieren (z.B. Mircea Eliade oder Emil Cioran) und in Rumänien erst nach 1989 rezipiert werden konnten. Andererseits werden ebenso im Ausland wirkende Intellektuelle wie Constantin Brâncuşi nur beiläufig oder Tristan Tzara gar nicht erwähnt (dass rumänischsprachige Autoren z.B. auch der früheren Moldauischen Sowjetrepublik bzw. der heutigen Republik Moldau und anderer Nachbarregionen in einer Ideengeschichte Rumäniens Platz finden müssten, ist der Autorin bewusst). 

Damit erscheint auch das Thema des kulturellen Transfers in der Betrachtung – und zwar nicht nur als einseitiger „brain drain“ aus Rumänien. Denn bekanntlich waren die Einflüsse aus den intellektuellen Zentren des 18., 19. und 20. Jahrhunderts (Paris, Wien, Berlin) auf das rumänische intellektuelle und politische Leben überaus bedeutend und vielfältig. Dass bedeutende französische Intellektuelle der 1940er und 1950er Jahre (z.B. Jean-Paul Sartre, Albert Camus) oder die „nouvelles philosophes“ der 1970er Jahre (z.B. Michel Foucault) in Rumänien nur äußerst begrenzt wahrgenommen werden konnten, ist der restriktiven, nur durch kurze „Tauwetterperioden“ unterbrochenen restriktiven rumänischen Kulturpolitik zwischen 1947 und 1989 geschuldet. 

Schon durch ihre zumeist im Ausland erworbene universitäre Ausbildung wirkten viele Gelehrte und Politiker als „frankophile“ oder „germanophile“ Vermittler und Akteure in den unterschiedlichen Regionen des rumänischen Sprachgebietes. Diese wechselseitigen kulturellen Transfers stellt M. Diaconu in einer Vielzahl biographischer Skizzen kenntnisreich dar. 

Vielleicht bietet die wünschenswerte folgende Auflage die Gelegenheit zu einigen Ergänzungen. 

So z.B. zur Rolle der Frauen im rumänischen Geistesleben, die bedauerlicherweise nur gestreift wird (S. 204f). Hier wäre zu wünschen gewesen, mehr aus den historischen Studien von Ştefania Mihăilescu, Mihaela Miroiu und Maria Bucur zu erfahren. Wäre es doch wenig überraschend, wenn unter den Ehefrauen oder Lebensgefährtinnen bedeutender rumänischer Intellektueller noch eine Reihe  innovativer Philosophinnen, Schriftstellerinnen, Malerinnen oder Komponistinnen zu entdecken wären. 

Trotz der an einigen Stellen vorgetragenen kritischen Anmerkungen bleibt zu resümieren: M. Diaconu erschließt mit ihrer Monographie souverän das intellektuelle Panorama Rumäniens entlang einer Zeitachse vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und legt die politischen Implikationen und Konsequenzen der darin verhandelten Theorien für die auftretenden Akteure frei. Da es der Autorin gelingt, auch die anspruchsvollsten Themen der Philosophiegeschichte zu vermitteln, wird diese Studie mit Sicherheit zu einem Gewinn für alle Leser/-innen. Mit der „Ideengeschichte Rumäniens“ ist Mădălina Diaconu ein Standardwerk gelungen. 

Deshalb ist sehr zu wünschen, dass dieses Werk bald ins Rumänische übersetzt wird und damit einem breiteren Publikum, vor allem Schüler/-innen und Studierenden, zugänglich wird. 

Peter Chroust

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